Seite:Die Grenzboten 1-1841.pdf/117

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Grenzboten (1841/1842), 1. Jahrgang, Band 1

der Dichtung geht die Sonne niemals unter, die Welt der Dichtung ist von Kristall und durchsichtig, der Dichter braucht sie nicht zu umsegeln um aus der andern Halbkugel anzukommen, um in der Zukunft zu leben. Der gewöhnliche Mensch begnügt sich mit der Hoffnung, der Mutter der Verzweiflung, Gewißheit ist nur die Gefährtin des Dichters und des Sehers.

Wir müßen unsern Dichter an eine Lehre erinnern, die er uns gegeben, die er aber selbst nicht benutzt hat:


Marchons les yeux toujours tournés vers le soleil,
Nons ne verrons pas l’ombre!

Wir machen ihn auf folgende Verse aufmerksam, ob er sie gleich ganz anders angewendet hat


Ils tombent comme nous, malgré leur fol orgueil
Et leur vaine amertume;
Les flots les plus hautains, dès qu'il vient un écueil,
S’écroulent en écume.

Ehemals Gefangene der classischen Schule, habt Ihr jetzt als Kerkermeister der romantischen bedeutend an Unbefangenheit verloren und wenig an Freiheit gewonnen.

Wäre die Poesie wirklich eine Krankheit der Seele, so wären die classischen Schmerzen den romantischen immer noch bei Weitem vorzuziehen. Jene sind einfach, wenig verwickelt, leicht zu erkennen, und leicht zu heilen. Liebe, Haß, Eifersucht, Ehrgeiz, Fanatimus, das ist beinahe das vollständige Krankheitsregister eines Hospitals des Classicismus. Wo aber ein Heilmittel finden, für ein Uebel, das in jeder Viertelstunde nach allen Weltgegenden hinstreift? Woher Linderung nehmen, wenn Ihr selbst nicht wisset, was Euch fehlt und worüber Ihr klagt. Nein, die Dichtung ist die Gesundheit der Seele, Ihr glaubt krank zu sein, seid es aber doch nicht, Ihr leidet an Hypochondrie. Davon laßt uns ein wenig reden. Wir Deutsche können davon ein klein Wörtchen mitsprechen.

Euch fehlt die Uebung; Ihr macht Eurem Gemüthe zu wenig Bewegung. Ihr verlaßt die Chaussee d’Antin um nach dem Palais royal und auf den Tuillerien zu gehen, Ihr verlaßt die Tuillerien, um auf demselben Weg nach dem Palais royal zurückzukehren. Was tiefer liegt in Euren Innern, seid Ihr an Eure hübsche niedliche Sprache gebunden, welche Euch lächelnd an einen seidnen Faden hält. Davon hüpft Ihr denn hin und wieder und macht Euch über die ganze andere Welt lustig, die so hart ist und so holprig, ganz von Stein und Holz. Wagt es, Euch frei zu machen, sucht das Wörterbuch der französischen Academie zu vergessen und fremde Sprachen zu erlernen. Verlaßt Paris; macht Reisen, aber nicht so, wie Ihr gewohnt seid, Reisen zu machen, rückwärts gehend. Das Angesicht immer nach

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Grenzboten (1841/1842), 1. Jahrgang, Band 1. Herbig, Leipzig 1841, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Grenzboten_1-1841.pdf/117&oldid=- (Version vom 31.7.2018)