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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

unfehlbar zu lesen und zu lernen, was er ihr vorlege. Dadurch gerieth sie in große Noth; sie sah, daß der Friede Gefahr lief, gänzlich zerstört zu werden; auch getraute sie sich nirgends Raths zu holen, um ihren Mann nicht zu verrathen und dem Spotte der Leute auszusetzen, welchen diese Geschichte ein „gefundenes Fressen“ wäre. Sie fügte sich also, obgleich mit zornigem Herzen, und that, wie er verlangte, indem sie die Bücher in die Hand nahm und so aufmerksam als möglich darin zu lesen suchte; auch hörte sie seinen Reden und Vorträgen fleißig zu, nahm sich vor dem Einschlafen in Acht und stellte sich sogar, als ob ihr das Verständniß für Manches aufginge, weil sie glaubte, dadurch dem Unglück bälder zu entrinnen. Heimlich aber vergoß sie bittere Thränen; sie schämte sich vor sich selber in dieser thörichten und schimpflichen Lage und schleuderte die Bücher oft in eine Ecke oder trat sie unter die Füße. Denn der Teufel ritt ihren Mann, daß er ihr Alles in die Hand gab, was er von langweiliger und herzloser Ziererei und Schönthuerei nur zusammenschleppen konnte.

Anfänglich war er nicht übel zufrieden mit ihrer Fügsamkeit; als er aber nach einigen Wochen bemerkte, daß sie immer noch keine begeisternde Anregung von sich ausgehen ließ, sagte er eines Morgens:

Empfohlene Zitierweise:
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 160. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/168&oldid=- (Version vom 31.7.2018)