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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

erschnappte er etwas Luft und sagte: „Kurtalwino! Kurtalwino; fahre wohl, du schöner Traum!“

Als er noch einige Mal um den Tisch herumgegangen, stand er still, reckte den Arm mit dem Stocke aus und fuhr fort: „Eine Buhlerin mit glattem Gesicht und hohlem Kopfe, zu dumm, ihre Schande in Worte zu setzen, zu unwissend, um den Buhlen mit dem kleinsten Liebesbrieflein kitzeln zu können, und doch schlau genug zum himmelschreiendsten Betrug, den die Sonne je gesehen! Sie nimmt die treuen, ehrlichen Ergüsse, die Briefe des Gatten, verrenkt das Geschlecht und verdreht die Namen und tractiert damit, prunkend mit gestohlenen Federn, den bethörten Genossen ihrer Sünde! So entlockt sie ihm ähnliche Ergüsse, die in sündiger Gluth brennen, schwelgt darin, ihre Armuth zehrt wie ein Vampyr am fremden Reichthum; doch nicht genug! Sie dreht dem Geschlechte abermals das Genick um, verwechselt abermals die Namen und betrügt mit tückischer Seele den arglosen Gemahl mit den neuen erschlichenen Liebesbriefen, das hohle und doch so verschmitzte Haupt abermals mit fremden Federn schmückend! So äffen sich zwei unbekannte Männer, der echte Gatte und der verführte Buhle, in der Luft fechtend, mit ihrem niedergeschriebenen Herzblut; einer übertrifft den Andern und wird wiederum überboten an Kraft und

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/194&oldid=- (Version vom 31.7.2018)