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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

Vor dem Hause hatte sich schon seit einer Stunde ein Häufchen Nachbarweiber gesammelt, welche die Ausgestoßene neugierig umgaben und mit Lamentieren auf jedem Schritte begleiteten. Sie glaubte vor Erschöpfung, Scham und Verwirrung in die Erde zu sinken, wagte nicht aufzusehen und wandte sich unschlüssig bald auf diese, bald auf jene Seite; denn sie hatte keine Eltern oder Verwandte mehr zu Seldwyla, ausgenommen eine alte Base, welche ihr endlich einfiel. Sie schlug den Weg nach der Wohnung derselben ein und erreichte sie, ohne die vielen Kirchgänger zu sehen, durch welche sie hindurch mußte; es herrschte bei einem Theile der Einwohner gerade wieder eine stärkere religiöse Strömung, welche jedoch nicht hinderte, daß nicht Einige vom Wege zum Tempel Gottes abschweiften und mit dem Kirchenbuche in der Hand der irrenden Frau nachliefen.

Gritli wurde übrigens von der Alten gut und sorglich aufgenommen. Nachdem sie sich etwas erholt, fing sie heftig an zu schluchzen, und als auch dies vorüber war, schwur sie, nie mehr in das Haus Viggi Störtelers zurückzukehren, und die Base, schnell berathen, ließ noch am gleichen Tage Gritlis nothwendigste Sachen bei ihm abholen.

Als er endlich ausgeschlafen hatte, fühlte er einen gewaltigen Hunger und wollte sich stracks zu Tisch

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/199&oldid=- (Version vom 31.7.2018)