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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

Sie legte die Tafel auf den Tisch, fuhr mit der Hand in die Rocktasche und klapperte ungeduldig darin. Dann zog sie eine Handvoll Zeug heraus und warf es auf den Tisch, ein geringes Taschenmesser, einen eisernen Fingerhut, einige Geldstücke, Brotkrumen, eine Hundepfeife, eine gedörrte Birne und ein kleines Stück Kreide. Die Birne steckte sie schnell in den Mund und rief kauend: „Da ist die Teufelskreide! Jetzt fangt nur an!“ Zugleich rückte sie mit ihrem Stuhle ihm dicht zur Seite und schaute ihm erwartungsvoll ins Gesicht.

„So große Schülerinnen bin ich eigentlich nicht gewöhnt“ sagte Wilhelm verlegen und rückte ein Bißchen zur Seite, „doch wenn Ihr gut aufmerken wollt, so will ich wohl sehen, was zu machen ist!“ Hierauf begann er der Frau die vier Species vorzumachen, und sie stellte sich, als ob sie nagelneue Dinge hörte. Sie rückte ihm wieder näher, nahm ihm alle Augenblicke die Kreide aus der Hand, verdarb die Rechnung und trieb tausend schnackische Dinge, über welchen sie zuweilen plötzlich die Augen voll zu ihm aufschlug. Er sah sie dann verwundert und nicht ohne Wohlgefallen an, ohne jedoch aus der Fassung zu geraten, und auch wenn sie auf die Tafel blickte, betrachtete er ruhig den hübschen Kopf, wie man etwa ein edles Gewächs betrachtet. Indessen

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 242. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/250&oldid=- (Version vom 31.7.2018)