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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

Als sie zu rechnen begannen, war die Frau still und zerstreut, und in der Zerstreuung machte sie nicht nur keinen Fehler, sondern rechnete die Aufgaben wie aus Versehen rasch und richtig zu Ende und machte von selbst die Proben dazu. Sie konnte plötzlich so gut rechnen wie der Schulmeister selbst, schien es aber durchaus nicht zu wissen. Er sah ihr eine geraume Weile zu, während es ihm pricklig im Gemüth wurde. Da fiel es ihm endlich auf, welch’ weiße Hand die Bauersfrau besaß, und ihr künstlich geflochtenes Haar duftete nicht weit von seiner Nase. Einesmals sagte er: „Sie sind keine Bäuerin! Woher kommen Sie? Was wollen Sie hier?“

Sie legte erschrocken die Kreide hin, sah ihn furchtsam an und dann vor sich nieder, indem sie die Hände in einander legte. Es herrschte eine große Stille. Endlich begann sie mit einem leichten Seufzer und leise: „Ich bin eine junge Wittfrau, die aus langer Weile schon mehr als eine Thorheit begonnen hat. Neulich wurde ich mit einer Freundin einig, den weisen Einsiedler zu beschauen, der so viel von sich reden macht. Sie haben gesehen, wie wir unsern Vorsatz ausführten; aber die Neugierde ist mir nicht gut bekommen!“

„Und warum nicht?“ fragte Wilhelm lachend, obgleich es ihm anfing, schwül zu werden. Da sagte sie noch leiser: „Ich habe mich leider in Sie verliebt!“

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 247. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/255&oldid=- (Version vom 31.7.2018)