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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

„Hier ist’s schön!“ rief Gritli, „hier muß ich ein wenig ausruhen, ich bin müde geworden!“ Sie setzte sich auf die Steine, und Wilhelm blieb vor ihr stehen. „Machen Sie nicht, daß der aufwacht, der da unten liegt!“ sagte er; erschreckt fragte sie, was er meine, und er erzählte ihr die Geschichte von dem Grabe. Nach einer Weile bemerkte sie: „Wo mag wohl seine Frau liegen? Gewiß nicht weit!“ „Das kann man freilich nicht wissen!“ antwortete Wilhelm lachend, „vielleicht liegt sie auf einem Schlachtfelde in Gallien, vielleicht auf einem andern Berge in dieser Gegend, vielleicht hier ganz in der Nähe, und vielleicht hat er gar keine gehabt!“

Hierauf trat eine Stille zwischen die zwei Leute, und jedes schien in eigenthümliche Gedanken vertieft. Gritli hatte ihren Hut abgelegt und zeigte plötzlich statt der Locken, die dem Schulmeister sonst in die Augen gestochen, ein glänzend glattgekämmtes Haar, einen schlichten runden Kopf. Das verblüffte und verblendete ihn gänzlich, denn durch die ungewohnte Veränderung erschien sie ihm schöner als je. Auch war sie außerordentlich fein und anmuthig gekleidet, obschon einfach, aber Alles frisch und wohlgemacht; nichts Einzelnes fiel auf, und doch machte Alles einen angenehmen Eindruck, der sich wieder der Herrschaft des schlichten blühenden Kopfes durchaus unterordnete.

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 253. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/261&oldid=- (Version vom 31.7.2018)