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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

Richtmenschen, welche mürrisch vorbeigingen. Gleich darauf folgte ein einzelner Knecht, der einen Karren vor sich her stieß, auf welchem der Gerichtete in einem schlechten Sarge lag. Scheu und ehrerbietig hielt der arme Teufel an und stellte sich zur Seite, um die glänzenden Leute vorüberziehen zu lassen, und er rückte den losen Sargdeckel zurecht, welcher stets herabzufallen und den Gehängten zu enthüllen drohte. Nun war unter den Kindern der Seldwyler ein siebenjähriges Mädchen, keck, schön und lockig, das hatte nicht aufgehört zu weinen, seit es den Knaben hatte dahinführen sehen, und konnte nicht getröstet werden. Wie der Zug jetzt an dem Karren vorbeiging, sprang das Kind wie ein Blitz hinzu, stieg auf das Rad und warf den Deckel hinunter, so daß der leblose Dietegen vor Aller Augen lag. In demselben Augenblicke schlug er die Augen auf und that einen leisen Athemzug; denn er war in der Zerstreuung des Tages schlecht gehenkt und zu früh vom Galgen genommen worden, weil die Beamteten noch etwas von der Mahlzeit zu erschnappen gedachten. Das heftige Mädchen schrie laut auf und rief: Er lebt noch! er lebt noch! Sogleich drängten sich die Frauen von Seldwyla um den Sarg, und als sie den schönen erbleichten Knaben sich regen sahen, bemächtigten sie sich seiner, nahmen ihn vom Karren und riefen ihn

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/297&oldid=- (Version vom 31.7.2018)