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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

Armensünderhemdchen zu Bett, Du lieber Schelm! Es ist ja ganz neu und dazu von guter Leinwand! Wahrlich, die bösen Leute zu Ruechenstein betreiben ihre Gräuel wenigstens mit einem gewissen Aufwand!

Damit deckte sie die Kinder behaglich zu und konnte sich nicht enthalten, beide zu küssen, so daß nun Dietegen herrlicher aufgehoben war, als er es sich noch am Morgen oder je in seinem Leben geträumt hätte. Aber seine Augen waren schon geschlossen und seine Seele in tiefem Schlafe. Nun hat er aber gar nicht gebetet! sagte Küngolt halblaut und bekümmert, worauf die Mutter erwiederte: So bete Du auch für ihn, mein Kindchen! und in die Stube zurückging. In der That sprach das Mädchen nun zwei Vaterunser, eines für sich und eines für seinen Schlafkameraden, warauf es still wurde im dunklen Kämmerlein.

Geraume Zeit nach Mitternacht erwachte Dietegen, weil nun erst ihn sein Hals zu schmerzen begann von dem unfreundlichen Strick. Das Gemach war ganz hell vom Mondschein, aber er konnte sich durchaus nicht entsinnen, wo er war und was aus ihm geworden sei. Nur das erkannte er, daß es ihm, vom Halsweh abgesehen, unendlich wohl ergehe. Das Fenster stand offen, ein Brunnen klang lieblich herein, die silberne Nacht webte flüsternd in den Waldbäumen,

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/302&oldid=- (Version vom 31.7.2018)