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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

Hüften verhüllten, und der Forstmeister betrachtete voll Wohlgefallen den schönen Knaben und verhieß, einen rechten Gesellen aus ihm zu machen.

Vor der Hand jedoch sollte er nur nothdürftig etwas lesen und schreiben lernen und mußte zu diesem Ende hin jeden Tag mit Küngoltchen zur Stadt gehen, wo in einem Nonnen- und in einem Mönchskloster für die Bürgerkinder einiger Unterricht ertheilt wurde. Aber die Hauptunterweisung erhielt Dietegen auf dem Hin- und Herwege, auf welchem das Mädchen ihm die Welt aufthat und ihm Auskunft gab über Alles, was am Wege stand oder darüber lief. Hierbei befolgte die kleine Lehrjungfer eine Erziehungsart von eigenthümlicher Erfindung. Sie neckte, hänselte und belog den unwissenden und leichtgläubigen Knaben erst über alle Dinge, indem sie ihm die dicksten Bären und Erfindungen aufband, und wenn er dann ihre Lügen und Märchen gutmüthig glaubte und sich darüber verwunderte, so beschämte sie ihn mit der Erklärung, daß alles nicht wahr sei; nachdem sie ihm dann seinen blinden Glauben spottend verwiesen, verkündigte sie ihm mit großer Weisheit den wahren Bestand der Welt, so weit er ihrem Kinderköpfchen bekannt war, und er befliß sich erröthend eines größeren Scharfsinnes, bis sie ihm eine neue Falle stellte. Nach und nach aber wurde er dadurch gewitzigt, den

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/311&oldid=- (Version vom 31.7.2018)