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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

führte nach dem Forfthause, so gingen sie nun nebeneinander hin.

Unversehens griff Küngolt an ihr Goldhaar, welches sie erst jetzt abgeschnitten glaubte, und da sie es noch fand, wie es gewesen, stand sie still und sagte zu Dietegen, indem sie ihn treuherzig ansah: „Kann ich nicht noch ein Brautkränzchen bekommen?"

Er sah sich um und gewahrte eine glänzend grüne Stechpalme. Rasch schnitt er einem starken Zweig von dem Strauche, machte einen Kranz daraus und setzte ihr denselben sorgsam auf's Haupt mit den Worten: „Es ist ein rauher Brautkranz, aber wehrhaft, wie unsere Ehre es jederzeit sein soll! Wer sie mit Wort oder That beleidigen will, wird die Strafe fühlen!"

Er küßte sie hierauf ein einziges Mal fest unter ihrem Kranze und sie ging zufrieden weiter mit ihm.

Das Forsthaus stand leer und verlassen, als sie es erreichten. Das Gesinde hatte sich wegen der vermeintlichen Hinrichtung theils aus Trauer, theils aus ungetreuem Leichtsinn verlaufen und Niemand kehrte an diesem Tage mehr zurück. Um so traulicher wurde das rasch auflebende junge Weib mit jedem Augenblick. Sie eilte von Schrank zu Schrank, von Kammer zu Kammer, und bald erschien sie in dem köstlichen Brautkleid ihrer Mutter, von welchem sie ihrem

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/375&oldid=- (Version vom 31.7.2018)