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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

Welt überklebt und vor dem Fenster ein Kapuzinerchen stehen hat, das die Kapuze auf und ab thut.

Es galt aber nicht nur, den Tempel des gesprochenen Wortes also auszuschmücken, sondern auch der wirkliche gemauerte Tempel mußte der neuen Zeit entsprechend wieder hergestellt werden. Die Kirche zu Schwanau war noch ein paar Jahrhunderte vor der Reformation erbaut worden und jetzt in dem schmucklosen Zustande, wie der Bildersturm und die streng geistige Gesinnung sie gelassen. Seit Jahrhunderten war das alterthümliche graue Bauwerk außen mit Epheu und wilden Reben übersponnen, innen aber hell geweißt, und durch die hellen Fenster, die immer klar gehalten wurden, fluthete das Licht des Himmels ungehindert über die Gemeinde hin. Kein Bildwerk war mehr zu sehen, als etwa die eingemauerten Grabsteine früherer Geschlechter, und das Wort des Predigers allein waltete ohne alle sinnliche Beihülfe in dem hellen, einfachen und doch ehrwürdigen Raume. Die Gemeinde hatte sich seit drei Jahrhunderten für stark genug gehalten, allen äußeren Sinnenschmuck zu verschmähen, um das innere geistige Bildwerk der Erlösungsgeschichte um so eifriger anbeten zu können. Jetzt, da auch dieses gefallen vor dem rauhen Wehen der Zeit, mußte der äußere Schmuck wieder herbei, um den Tabernakel des Unbestimmten zieren zu helfen.

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/447&oldid=- (Version vom 31.7.2018)