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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

wieder die pomphafte Darstellung eines Weltmysteriums gestalten konnte.

Alles Geschaffene wäre aber salzlos gewesen ohne die Uebung heilsamer Zucht. Um das erneuerte Tempelhaus zu füllen, duldete der Pfarrherr Keinen, der nicht hineingehen wollte. Er kehrte also den Spieß vor Allem gegen Diejenigen, welche sich draußen hielten und sich vermaßen, das, was er verkündige, selbst schon zu wissen.

„Nicht die Jesuiten und Abergläubigen," rief er von der Kanzel mit lauter Stimme, „sind jetzt die gefährlichsten Feinde der Kirche, sondern jene Gleichgültigen und Kalten, welche in dünkelhafter Ueberhebung, in trauriger Halbwisserei unserer Kirche und religiösen Gemeinschaft glauben entrathen zu können und unsere Lehren verachten, indem sie in schnödem Weltsinne nur der Welt und ihren materiellen Interessen und Genüssen nachjagen. Warum sehen wir Diesen und Jenen nicht unter uns, wenn wir in unserem Tempel vereinigt uns über das Zeitliche zu erheben und das Göttliche, Unvergängliche zu finden trachten? Weil er glaubt, nachdem wir in hundertjährigem Kampfe die Kirche befreit vom starren Dogmenpanzer, er habe jetzt nichts mehr zu glauben, nichts mehr zu fürchten, nichts mehr zu hoffen, was er sich nicht selbst besser sagen könne, als jeder Prie-

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/450&oldid=- (Version vom 31.7.2018)