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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

Mutter vergelten kann! Sie würden vielleicht selbst einige Befriedigung in der Aussicht finden, wenigstens in einem bedeutenden Tonwerk etwa einst in Gemeinschaft mit uns Ihr Herz aussingen zu können, möchten Sie auch dabei denken, was Sie wollten, und uns überlassen, das Gleiche zu thun!"

Justine schaute bei diesen Worten ihren Mann hoffnungsvoll an. Es war ihre schönste Erinnerung, in dem ersten Jahre ihrer Ehe mit ihm in einer größeren Stadt an einem musikalischen Feste mitgewirkt zu haben. Bei der Aufführung eines mächtigen biblischen Oratoriums hatten sie sich, Jedes bei seiner Stimme, so nahe gestanden, daß sie in den Pausen einander die Hand geben konnten. Am Abend hatte Jukundus seine Frau zärtlich in die Arme geschlossen und ihr gestanden, daß er trotz allem Erlebten noch nie so glücklich gewesen sei wie heute, da er in dem wohltönigen Sturme der Musik und des Gesanges mitgesungen und dabei neben sich noch ihre liebe Stimme mit gehört habe.

Allein jetzt erwiderte er dem Geistlichen, schon in trüber Stimmung gekommen und durch dessen Gewaltsamkeit nicht aufgeheitert, etwas trocken:

„Ich bin nicht Ihrer Ansicht, daß die Religion die Kunst hervorgebracht habe. Ich glaube vielmehr, daß die Kunst für sich allein da ist von jeher und

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 181. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/457&oldid=- (Version vom 31.7.2018)