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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

Personen, deren eigene physiognomische Beschaffenheit, Lebensarten und Thaten sie selbst zum Gegenstande der Schilderung, des Unwillens und des Spottes zu machen geeignet waren, stellten sich gerade in die vorderste Reihe und erhuben als rechte Herzoge der Schmähsucht und der Verläumdung ihre Stimme, und je lauter der grimmige Lärm war, desto stiller und kleinlauter wurden die Geschmähten. Ein für die Betroffenen furchtbarer Gemeinplatz wurde von den gedankenlosen Gaffern ausgesprochen. Wenn nur der hundertste Theil der Anschuldigungen wahr wäre, so würde das mehr als genug sein! hieß es, und sie bedachten hiebei nicht, daß ja Jeder von ihnen einen solchen hundertsten Theil auf den Schultern trüge, wenn gerecht gemessen würde.

Neben den Angesehenen und Bekannten im Lande wurde wohl auch etwa in irgend einem Winkel ein armer Unbekannter vernichtet, daß es anzuhören war, wie das Schreien eines Hühnchens, das ein Marder nächtlicher Weile einsam erwürgt. Oder es fielen ein paar der Herzoge unter den reißenden Thieren einander selbst an auf irgend einem besondern Wechselplatz, kehrten aber mit zerbissenen und blutigen Schnauzen zum allgemeinen Reichstage zurück, ohne daß es ihnen dort etwas geschadet hätte. Sie beleckten sich die zerzausten Bälge und nahmen frech wieder das Wort.

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/469&oldid=- (Version vom 31.7.2018)