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Der Phönix ist ein Symbol der Unsterblichkeit, der immer sich erneuernden Verjüngung; denn von Zeit zu Zeit, wenn er eben erscheint, baut er sich ein Nest, in welchem er sich auf einem Scheiterhaufen verbrennt, um aus seiner Asche sogleich verjüngt wieder hervorzugehen. Er wird in Adlergröße, aber in Kranichgestalt gedacht, von roter und goldener Farbe. Man kennt ihn besonders in Arabien, Indien und Ägypten; aber auch in der heutigen Volkssage kommt er als Vogel Fenis noch mehrfach vor. In Tirol kennt man noch eine schöne Sage, nach der der Vogel Phönix einen blinden König durch seinen Gesang heilt[1].

Mäuse und Ratten begegnen in verschiedenen Sagen: Der Hamelnsche Rattenfänger führt sie in die Weser; in Eger in Böhmen läßt ein Mann bei einem Zauber weiße Mäuse erscheinen; ebendort erscheint der Teufel in der Gestalt einer Maus; auch wird die Seele des Menschen oft unter derselben Gestalt gesehen.

Der Hase, das Symbol der Fruchtbarkeit, kommt in Sagen als verwandelter Mensch vor, als solcher gewöhnlich dreibeinig. Meistens sind es Frauen, Hexen, die die Hülle des Hasen zur Verwandlung wählen. Zum Verwandeln gebrauchen sie einen Leibriemen aus Menschenhaut oder aus Garn, das während des Gottesdienstes gesponnen ist. Hasen erscheinen auch, wenn ein Unheil bevorsteht, wenn sich z. B. jemand erhängen will, oder wenn sonst jemand stirbt.

Auch der Fuchs erscheint als Hexenhülle und oft dreibeinig. In Schwaben geht unter seiner Gestalt ein Geist, der den Jägern verderblich werden kann.

Der Wolf kommt in der Sage vor allem als Werwolf vor, als ein Mensch, der Wolfsgestalt annehmen kann. Schon die Griechen kannten den Lykanthropos, und die Römer wußten viel vom Versipellis zu erzählen. In Frankreich heißt er jetzt loupgarou, in Skandinavien Varulf. Der Glaube an den Werwolf herrschte bei allen slavischen, keltischen und romanischen Völkern. Die Verwandlung geschieht durch Überwerfen eines Wolfshemdes oder wie beim Hasen durch einen Gürtel. Gewöhnlich ist die Rückkehr zur menschlichen Gestalt nicht freiwillig, sondern geschieht erst nach einer bestimmten


  1. Zingerle, Sagen, Märchen und Gebräuche aus Tirol. 1859. S. 446.
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Karl Wehrhan: Die Sage. Wilhelm Heims, Leipzig 1908, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Sage-Karl_Wehrhan-1908.djvu/107&oldid=- (Version vom 31.7.2018)