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Volkssage ist ja mehr oder weniger die dichterisch-mythische Produktion sehr verschiedener nationaler Elemente zusammengeschlossen, von allen Seiten und aus allen Zeiten lassen sich fremde Einflüsse nachweisen; aber dennoch nimmt der deutsche Anteil sowohl durch die Größe seines Betrages als auch durch den formenden Einfluß die erste Stelle ein, was gerade von dem ethischen Gehalt der deutschen Sage in besonderem Grade gilt.

Der sittliche Zug der deutschen Sage, durch welchen sie sich von den Sagen aller anderen Völker unterscheidet, offenbart sich nach zwei entgegengesetzten Richtungen: in einer eigentümlichen Anschauung von dem Adel der Persönlichkeit und in einer eigentümlichen Anschauung von der Stille und Reinheit des Seelenlebens.

Die erstere Anschauung steigert sich zu einer Erhebung über das sinnliche Leben, zu einer großartigen Treue in der Durchführung übernommener Pflichten, falls diese freiwillig übernommen werden. Dann erfordern Ehre und Freiheit, daß das Band allen sinnlichen und sittlichen Gegenwirkungen zum Trotz gehalten werde. Beispiele finden sich in Hülle und Fülle nicht nur in der darauf hin schon oft gepriesenen Helden-, sondern auch in der eigentlichen Volkssage: der Geliebte bleibt der Geliebten und diese dem Erwählten des Herzens treu, der Mann der Frau, die Frau ihrem Gemahl, der Herr dem Knecht und dieser dem Herrn, der Freund dem Freunde, der Bruder der Schwester und umgekehrt, in allen Lebenslagen und unter allen Umständen (Stallmeister Froben). Der Beispiele dafür sind soviel, daß wir auf lange Anführung verzichten dürfen, in jeder Sagensammlung treffen wir sie reichlich. Und wo einmal das Gegenteil der Fall ist, wo eine Untreue geschildert wird, da folgt auch gleich die Strafe auf dem Fuße nach, eben ein nicht zu übersehender Zug der Volkssage, ein trefflicher Beweis für echt sittlichen Gehalt. Wie in deutscher Geschichte allezeit deutsche Treue unter Hintanstellung der eigenen Persönlichkeit als das Höchste galt und Untreue als der schändlichste und ehrenrührigste Verrat, so auch in der deutschen Sage. Es sei hier nur an Friedrich den Schönen und Ludwig den Bayern, an die Weiber von Weinsberg, Kaiser Heinrich versucht die Kaiserin[1], Genoveva und viele andere erinnert.


  1. Brüder Grimm, Deutsche Sagen Nr. 491.
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Karl Wehrhan: Die Sage. Wilhelm Heims, Leipzig 1908, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Sage-Karl_Wehrhan-1908.djvu/26&oldid=- (Version vom 31.7.2018)