Seite:Edith Stein - Welt und Person.pdf/104

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Martin Heideggers Existentialphilosphie

das zum menschlichen Sein als solchem gehört, ist unbeschadet der Angst die Seinssicherheit so stark, daß man den Tod nicht glauben würde, wenn es keine anderen Bezeugungen gäbe. Es gibt aber solche Bezeugungen, und zwar so stark, daß die natürliche Seinssicherheit davor zunichte wird. Das sind zunächst eigene Zustände, die dem Sterben sehr nahe kommen: schwere Krankheit, besonders wenn sie einen plötzlichen oder allmählichen Verfall der Kräfte mit sich bringt, oder unmittelbar drohender gewaltsamer Tod. Hier setzt die wirkliche Erfahrung des Sterbens ein, wenn sie auch nicht zu Ende kommt, falls die Gefahr vorübergeht.

In der schweren Krankheit, die vor das Angesicht des Todes bringt, hört alles Besorgen auf: alle Dinge dieser Welt, um die man sonst gesorgt hat, werden unwichtig bis zum völligen Versinken. Das bedeutet zugleich ein Abgeschnittensein von allen Menschen, die noch in besorgender Geschäftigkeit befangen sind: man lebt nicht mehr in ihrer Welt[1]. Es kann sich dafür, solange die Unausweichlichkeit des Todes noch nicht erkannt oder noch nicht anerkannt ist, eine andere Sorge einstellen: die ausschließliche Sorge für den eigenen Leib. Aber einmal hört auch das auf (allerdings ist es möglich, daß jemand darin befangen bleibt und sogar darin vom Tod überrascht wird), und dann steht als Letztes und allein Wichtiges nur noch die Frage: Sein oder Nichtsein? Das Sein, um das es jetzt geht, ist aber ganz gewiß nicht das In-der-Welt-sein. Das ist schon zu Ende, wenn man dem Tod wirklich ins Auge sieht. Er ist das Ende des leiblichen Lebens und alles dessen, was mit dem leiblichen Leben zusammenhängt. Darüber hinaus aber ist er ein großes dunkles Tor: Es muß durchschritten werden – aber was dann? Dieses Was dann? ist die eigentliche Frage des Todes, die im Sterben erfahren wird. Gibt es eine Antwort auf die Frage, ehe das Tor durchschritten ist?

Menschen, die dem Tode ins Auge gesehen haben und dann ins Leben zurückkehrten, sind eine Ausnahme. Die meisten werden vor


  1. Heidegger hat selbst in einer Anmerkung (S. 254) Tolstois Novelle Der Tod des Iwan Iljitsch erwähnt. Es wird darin nicht nur der Zusammenbruch des Man stirbt (worauf Heidegger hinweist), sondern auch diese tiefe Kluft zwischen dem Sterbenden und den Lebenden meisterhaft vor Augen gestellt. In Krieg und Frieden geschieht es nicht mit derselben krassen Realistik, aber vielleicht mit noch schärferer Herausarbeitung des Wesentlichen.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/104&oldid=- (Version vom 31.7.2018)