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Sein und Zeit

und Leidens verschwinden, wo der Sterbende, für alle Umstehenden sichtbar, von einem neuen Leben erglüht und verklärt wird, wo seine Augen in ein uns unzugängliches Licht hineinschauen, das seinen Abglanz noch auf dem entseelten Körper zurückläßt. Wer nie etwas von einem höheren Leben gehört oder den Glauben daran von sich geworfen hätte, müßte durch einen solchen Anblick darauf gestoßen werden, daß es so etwas geben müsse. Und es wird sich ihm der Sinn des Todes als eines Durchganges vom Leben in dieser Welt und in diesem Leib zu einem anderen Leben, von einer Seinsweise zu einer anderen Seinsweise erschließen. Dann ist aber auch das Dasein – als Sein zum Tode – nicht Sein zum Ende, sondern zu einem neuen Sein: freilich durch die Bitterkeit des Todes hindurch, durch das gewaltsame Abreißen des natürlichen Daseins hindurch.

Die Erwägung des Todes sollte uns zum Verständnis des eigentlichen Seins helfen, zu dem der Mensch aus dem alltäglichen Dasein zurückgerufen wird: es enthüllt sich als ein Sein, mit dem sich der Mensch selbst hineinstellt in die Hinordnung auf ein andersartiges Sein und sich herauslöst aus dem alltäglichen Sein, in dem er sich zunächst vorfindet. So stoßen wir innerhalb des Daseins selbst auf drei Weisen oder Stufen des Seins, die wir – vom Glauben her gesehen – als natürliches Leben, Gnadenleben, Glorienleben fassen könnten. Es ist klar: wenn man anstelle des Glorienlebens das Nicht-sein setzt, dann muß für das Gnadenleben das Sein zum Ende, das Vorlaufen in das Nicht-sein treten.

Es soll aber jetzt geprüft werden, ob sich innerhalb des Daseins selbst – und nicht erst von Sterben und Tod her – Hinweise auf ein eigentliches (und das heißt volleres, nicht leereres) Sein finden. Bei Heidegger selbst sind Ansätze dazu aufweisbar: Wendungen, aus denen deutlich zu entnehmen ist, daß unter dem eigentlichen Sein noch etwas anderes zu verstehen ist als das Vorlaufen in den Tod. Zur Entschlossenheit gehört das Verstehen des eigenen Seinkönnens, das es dem Menschen ermöglicht, sich selbst zu entwerfen, zugleich ein Verstehen der jeweiligen, nicht vorausberechenbaren Situation und dessen, was sie von ihm fordert. Eigentlich leben heißt die eigensten Möglichkeiten verwirklichen und den Forderungen des Augenblicks, der jeweils gegebenen Lebensbedingungen entsprechen. Wie sollen wir das aber anders verstehen als im Sinne der Verwirklichung

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/107&oldid=- (Version vom 31.7.2018)