Seite:Edith Stein - Welt und Person.pdf/108

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Martin Heideggers Existentialphilosphie

eines Wesens oder einer Eigenart, die dem Menschen mitgegeben (d.h. mit der er ins Dasein geworfen ist), die aber zu ihrer Entfaltung seiner freien Mitwirkung bedarf und ihm dazu anvertraut ist? Was kann das Erfassen des Augenblicks und der Situation anderes bedeuten als das Verstehen einer Ordnung oder eines Planes, den der Mensch nicht selbst entworfen hat, in den er aber einbezogen ist und worin er seine Rolle zu übernehmen hat?

All das bedeutet Bindung des Daseins an ein Sein, das nicht das seine, sondern für das seine Grund und Ziel ist. Zugleich bedeutet es eine Sprengung der Zeitlichkeit: die besorgende Geschäftigkeit, die bei keiner Sache verweilt, sondern immer schon zu künftigen vorauseilt, wird dem Augenblick nicht gerecht. Darin kommt zum Ausdruck, daß jeder Augenblick eine Fülle bietet, die ausgeschöpft werden will. Vieles ist damit ausgesprochen. Einmal, daß Augenblick hier nicht im Sinne eines bloßen Zeitpunktes zu verstehen ist, eines Schnittes zwischen Strecken der Vergangenheit und Zukunft. Es bezeichnet die Berührung eines Zeitlichen mit etwas, was selbst nicht zeitlich ist, aber in seine Zeitlichkeit hineinreicht.

Heidegger spricht selbst von der Deutung der Zeit als Abbild der Ewigkeit, aber nur, um sie auszuschließen. Vom Standpunkt einer Zeitlehre aus, die keine Ewigkeit kennt und das Sein als solches für zeitlich erklärt, ist es aber unmöglich, die Bedeutung klarzumachen, die er dem Augenblick gibt. Es tritt etwas im Augenblick – und das heißt hier doch: in einem Zeitpunkt – an uns heran, was vielleicht kein anderer Augenblick uns wieder bieten wird. Es ausschöpfen, d.h. es ganz in das eigene Sein aufnehmen, dazu gehört einmal, daß wir uns dafür öffnen oder ihm hingeben. Es ist ferner nötig, daß wir nicht aufenthaltlos zu etwas anderem weitereilen, sondern dabei verweilen, bis wir es ausgeschöpft haben oder bis eine dringendere Forderung uns zum Verzicht nötigt. „Verweilen bis...“ d.h. aber, daß wir, weil unser Sein zeitlich ist, zur Aneignung des Zeitlosen Zeit brauchen. Daß wir aber in unser Sein Zeitloses aufnehmen können, daß wir trotz der Flüchtigkeit unseres Seins etwas bewahren (was Heidegger Gewesend-sein nennt, ist ein Bewahren), das beweist, daß unser Sein nicht schlechthin zeitlich ist, daß es sich nicht in der Zeitlichkeit erschöpft.

Das Verhältnis zwischen der Zeitlichkeit unseres Seins und dem Zeitlosen, das es in sich aufnehmen und verwirklichen könnte –

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/108&oldid=- (Version vom 31.7.2018)