Seite:Edith Stein - Welt und Person.pdf/110

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Martin Heideggers Existentialphilosphie

nicht im Sinn einer Gemütsverfassung verstanden wissen und nicht „im Sinne einer weltanschaulich-ethischen Einschätzung des menschlichen Lebens“[1], „sondern rein als Eigentümlichkeit des menschlichen Seins: daß es dem Menschen in seinem Sein um sein Sein geht“. Aber es ist doch wohl kein Zufall, daß er den Namen Sorge dafür gewählt hat, daß andererseits in seinen Untersuchungen kein Raum ist für das, was dem menschlichen Sein Fülle gibt: Freude, Glück, Liebe. Das Dasein ist bei ihm entleert zu einem Laufen aus dem Nichts ins Nichts. Und doch ist es die Fülle, die erst recht verständlich macht, warum es dem Menschen „um sein Sein geht“.

Dieses Sein ist nicht nur ein sich zeitlich streckendes und damit stets sich selbst voraus, der Mensch verlangt nach dem immer neuen Beschenktwerden mit dem Sein, um das ausschöpfen zu können, was der Augenblick ihm zugleich gibt und nimmt. Was ihm Fülle gibt, das will er nicht lassen, und er möchte ohne Ende und ohne Grenzen sein, um es ganz und ohne Ende zu besitzen. Freude ohne Ende, Glück ohne Schatten, Liebe ohne Grenzen, höchst gesteigertes Leben ohne Erschlaffen, kraftvollste Tat, die zugleich vollendete Ruhe und Gelöstheit von allen Spannungen ist – das ist ewige Seligkeit. Das ist das Sein, um das es dem Menschen in seinem Dasein geht. Er greift nach dem Glauben, der es ihm verheißt, weil diese Verheißung seinem tiefsten Wesen entspricht, weil sie ihm erst den Sinn seines Seins erschließt: er wird im vollen Sinne sein, wenn er im Vollbesitz seines Wesens ist; dazu gehört Erschlossenheit in doppeltem Sinn: als Übergang aller Möglichkeiten in die Wirklichkeit (die Seinsvollendung) und – im Heideggerschen Sinn – als uneingeschränktes Verständnis des eigenen Seins und Verständnis des gesamten Seins im äußersten Ausmaß, das durch die Grenzen des eigenen endlichen Seins abgesteckt ist; für beides ist erforderlich die Sammlung aus der zeitlichen Erstreckung in die Einheit, auf die offenbar Kierkegaard - Heidegger mit dem Augenblick abzielen: die Seins weise, in der der Unterschied von Augenblick und Dauer aufgehoben ist und das Endliche das ihm erreichbare Höchstmaß seines Anteils am Ewigen erreicht hat, ein Mittleres zwischen Zeit und Ewigkeit, das die christliche Philosophie als Aion (aevum) bezeichnet hat[2].


  1. Vgl. sein Kant-Buch, S. 226.
  2. Vgl. Summa theologica I q 10 a 5 corp.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/110&oldid=- (Version vom 31.7.2018)