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Kant und das Problem der Metaphysik

So ist das, was als Horizont des Seienden gebildet wird, die Zeit. Das Bilden des Horizonts aber wird als die ursprüngliche Zeit in Anspruch genommen: „Die Zeit ... ist so reine Anschauung, daß sie von sich aus den Anblick des Nacheinander vorbildet und diesen als solchen auf sich als das bildende Hinnehmen zu-hält. Diese reine Anschauung geht mit dem in ihr gebildeten Angeschauten sich selbst an... Die Zeit ist ihrem Wesen nach reine Affektion ihrer selbst“[1]. „Die Zeit ist ... nicht eine wirkende Affektion, die ein vorhandenes Selbst trifft, sondern als reine Selbstaffektion bildet sie das Wesen von so etwas wie Sich-selbst-angehen. Sofern aber zum Wesen des endlichen Subjekts gehört, als ein Selbst angegangen werden zu können, bildet die Zeit als reine Selbstaffektion die Wesensstruktur der Subjektivität... Als reine Selbstaffektion bildet sie ursprünglich die endliche Selbstheit dergestalt, daß das selbst so etwas wie Selbstbewußtsein sein kann“[2]. „Die reine Selbstaffektion gibt die transzendentale Urstruktur des endlichen Selbst als eines solchen“[3].

Das Ich ist, wie die Zeit selbst, nicht in der Zeit. Daraus folgt aber nicht, daß es nicht zeitlich ist, sondern „daß es die Zeit selbst und nur als sie selbst seinem eigensten Wesen nach möglich wird“[4]. Das Stehen und Bleiben des Ich will es nicht als Substanz kennzeichnen, sondern gehört wesenhaft zu dem Gegenstehen-lassen, das dieses Ich vollzieht. „Dieses Stehend und Bleibend sind keine ontischen Aussagen über die Unveränderung des Ich, sondern ... transzendentale Bestimmungen... Das stehende Ich heißt so, weil es als ich denke, d.h. ich stelle vor, dergleichen wie Stand und Bestand sich vorhält. Als Ich bildet es das Korrelatum zur Beständigkeit überhaupt“[5]. Weil aber das reine Beschaffen des reinen Anblicks von Gegenwart das Wesen der Zeit ist, ist das stehende und bleibende Ich „das Ich im ursprünglichen Bilden der Zeit, d.i. als ursprüngliche Zeit“. Das volle Wesen der Zeit umfaßt demnach ein Doppeltes: die reine Selbstaffektion und das, was ihr entspringt und gleichsam für sich allein in der gewöhnlichen Zeitrechnung erblickt wird.


  1. Kant und das Problem der Metaphysik, S. 180 f.
  2. a.a.O. S. 181.
  3. a.a.O. S. 183.
  4. a.a.O. S. 184.
  5. a.a.O. S. 185.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/119&oldid=- (Version vom 31.7.2018)