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Martin Heideggers Existentialphilosphie

Begegnendes, sondern als eigenes Sein-können. Das alltägliche Gerede des Man macht daraus ein Ereignis, das dem Man begegnet, wovor sich also das je eigene Selbst sicher fühlen kann. Es stempelt die Angst zur Furcht vor dem drohenden Ereignis und damit zu etwas, dem man sich nicht hingeben darf; es läßt den Mut zur Angst vor dem Tode nicht aufkommen und verdeckt dem Dasein dieses sein eigenstes, unbezügliches Seinkönnen. Indem das Man dem Tode eine nur empirische Gewißheit (als allgemeine Erfahrungstatsache) zuspricht, verdeckt es sich seine eigentliche Gewißheit, die zur Aufgeschlossenheit des Daseins gehört: die eigentümliche Gewißheit, daß der Tod jeden Augenblick möglich, obwohl zeitlich unbestimmt ist. Mit dieser Gewißheit ist eine Art Ganzheit des Daseins schon gegeben.

Das eigentliche Sein zum Tode ist kein besorgendes Verfügbar-machen-wollen, kein Warten auf Verwirklichung; es hat das Nicht-sein-können als pure Möglichkeit vor Augen, in die es vorläuft als in seine eigenste Möglichkeit, die es selbst übernehmen muß, losgelöst von allen Bezügen; die ihm darum sein eigentliches Sein enthüllt und zugleich die Uneigentlichkeit des durchschnittlichen Seins und das eigentliche Seinkönnen der anderen. Aus der Befindlichkeit der Angst steigt ihm diese Möglichkeit bedrohend auf. Für seine Ganzheit aber hat sie Bedeutung, „weil das Vorlaufen in die unüberholbare Möglichkeit alle ihr vorgelagerten Möglichkeiten mit erschließt“; darum „liegt in ihm die Möglichkeit eines existentiellen Vorwegnehmens des ganzen Daseins“[1].

Das eigentliche Ganzseinkönnen des Daseins, das sich im Vorlaufen zum Tode ankündigt, bedarf aber einer Bezeugung der möglichen Eigentlichkeit seines Seins aus dem Dasein selbst. Sie liegt vor im Gewissen. Aus der Verlorenheit in das Man muß das Dasein zu sich selbst gerufen werden. Die Stimme des Gewissens hat den Charakter eines Rufes. Angerufen ist das Dasein selbst, unter Übergehung des Man, und zwar schweigend. Der Rufende ist wiederum das Dasein, aber der Ruf ist nicht von mir vollzogen, sondern kommt über mich: das Dasein in seiner Angst um sein eigenes Seinkönnen als Sorge ist der Rufer. Das Selbst ist dem im Man verlorenen Dasein das Fremdeste; daher der Fremdcharakter


  1. a.a.O. S. 264.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/80&oldid=- (Version vom 31.7.2018)