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Sein und Zeit

des Rufes. „Der Anruf des Selbst... drängt es nicht auf sich selbst in ein Inneres, damit es sich vor der Außenwelt verschließen soll“[1]. „Der Ruf weist das Dasein vor auf sein Seinkönnen ...“ Er ist vorrufender Rückruf[2]. Er spricht nicht von Begebenheiten und gibt nichts zu bereden. Wenn er von Schuld spricht, so bedeutet dies Schuldigsein ein Existential: Grund eines Nicht-seins sein. (Das ist für alles Schuldhaben und Schulden-haben grundlegend.) Das Dasein als in die Existenz (d.i. ein Sein als Entwurf) geworfenes ist Grund seines Seins: es ist dem Sein als Grund des Seinkönnens überantwortet. Weil es hinter seinen Möglichkeiten immer zurückbleibt, weil es, in einer seiend, die andern nicht ist, ist es wesenhaft immer Grund des Nichtseins und darum immer schuldig (in einem Sinn, der nicht am Bösen orientiert, sondern für Gut und Böse vorausgesetzt ist).

Das rechte Verstehen des Gewissensrufes ist das Gewissen-haben-wollen, aus dem freigewählten Sein-können handeln wollen und damit verantwortlich sein. „Jedes Handeln aber ist faktisch notwendig gewissenlos, nicht nur weil es faktische moralische Verschuldung nicht vermeidet, sondern weil es auf dem nichtigen Grunde seines nichtigen Entwerfens je schon im Mitsein mit Anderen an ihnen schuldig geworden ist. So wird das Gewissen-haben-wollen zur Übernahme der wesenhaften Gewissenlosigkeit, innerhalb der allein die existentielle Möglichkeit besteht, gut zu sein[3]. „Das Gewissen offenbart sich... als eine zum Sein des Daseins gehörige Bezeugung, in der es dieses selbst vor sein eigenstes Seinkönnen ruft“.

Wenn die gewöhnliche Auslegung des Gewissens als gutes oder böses rückwärts Tatsachen verrechnen oder vorwärts vor einzelnen Tatsachen warnen läßt, so ist das ein Mißdeuten des Rufs aus der alltäglich-besorgenden Einstellung auf Vor- oder Zuhandenes heraus, die vor dem eigentlichen Sein flieht. Das rechte Verstehen des Gewissensrufs ist eine Weise des Daseins und zwar seiner Erschlossenheit. Die entsprechende Befindlichkeit ist die Unheimlichkeit, die zugehörige Rede das Schweigen, mit dem das Dasein sein Seinkönnen auf sich nimmt. Das Ganze ist zu bezeichnen als Entschlossenheit, und das bedeutet einen „ausgezeichneten Modus der Erschlossenheit“[4],


  1. a.a.O. S. 273.
  2. a.a.O. S. 280.
  3. a.a.O. S. 288.
  4. [82] a.a.O. S. 297.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 81. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/81&oldid=- (Version vom 31.7.2018)