Seite:Eine Bergfahrt in Süd-Tirol 36 02.jpg

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ihm verlassene und der Dritte und Vierte trat ebenfalls eine Stufe höher. Das Seil unterhielt die Verbindung, und da man nur langsam vorwärts kam, hatte man Zeit, die Stufe mit der Fußspitze zu vertiefen, das Steigeisen fest in den harten, kernigen Schnee zu drücken und sich außerdem zu verankern, d.h. den Pickel nach rechts in Kopfhöhe in die Firnwand zu hauen: so hatte man den moralischen Halt des Seiles, der Fuß wurzelte im Boden, die Arme hatten einen Halt an dem mit seinen Zähnen im vereisten Schnee haftenden Pickel - und nach unten brauchte man ja nicht zu sehen. So stieg Einer über dem Anderen empor; von unten mußte es aussehen, als stehe Einer auf dem Kopfe des Anderen. Mein Freund murrte zwar unter mir: „Hinauf mag’s ja gehen, aber wegen des Rückweges habe ich die ernstesten Bedenken!“ Ich konnte ihn jedoch mit gutem Gewissen trösten: „Lassen Sie uns nur erst oben sein, abwärts geht’s ganz von selber“! und ich war mir der Zweideutigkeit nicht bewußt, die in diesem Trostworte lag.

So schiebt man sich Schritt für Schritt und Stufe für Stufe langsam empor; dicht unterhalb der Spitze hört plötzlich die ungemüthliche Steilheit auf, und sogar die Steigeisen werden entbehrlich, und auf einmal stößt Giacinto den Pickel in den Schnee und begrüßt uns auf der Spitze des Adamello, 3547 Meter über dem Meere. Da riß ich den Hut vom Kopfe und stieß einen Juchzer aus oder - suchte ihn auszustoßen, er klang nämlich in dieser Höhe dünn und tonlos wie ein ersterbendes Rufen aus weiter Ferne.

Die Aussicht ist unendlich erhaben und umfassend; sie reicht bis zu den Gajischen und Peninischen Alpen und umfasst Monte Disgrazia, Bernina, Ortlergruppe, Dolomiten, Voralpen bis zur Paduaner Ebene und Garda- und Iseosee. Um uns einen Einblick auch in die Thäler nach Norden zu gestatten, nahm mich Giacinto am Arm und führte mich vor an den Rand des Gipfels. Zwei kleine Ortschaften, eine mit hölzernen, eine mit Steinhäusern, grüßten herauf und erinnerten an Menschenlust und Menschenleid, die in solcher Umgebung recht kleinlich erscheinen und auf die man sich förmlich erst besinnen muss. Mein Freund sollte dem Führer gleichfalls an den Saum der Hochwarte folgen, seine Wächten-Aversion war aber unüberwindlich; er weigerte sich hartnäckig und hätte diesen unzuverlässigen Boden um keinen Preis betreten. Er hatte eigentlich auch Recht, denn versagte der Schnee unter uns, so ging Giacinto gerade so gut thalab, wie ich, und in den Bergen sind zehn Prozent Vorsicht zu viel weniger schädlich als ein Prozent zu wenig. Oder kann es eine bitterere Satire auf alle Erfahrung geben, als Emil Zsigmondy's Buch über die Gefahren der Alpen und sein Schicksal? Wenn Jemand die Tücken der Berge kannte, so war er es, und doch mußte er dem Schicksal verfallen, das ihm wenige Monate vorher der Führer prophezeite, der mich über's Wildgrabenjoch nach Landro und zum Monte Cristallo führte, dem Schicksal, das auch den berühmtesten aller Cristalloführer ereilt hat.

Der Gedanke an den Rückweg war der einzige Schatten, der auf diese unvergesslichen Augenblicke fiel, aber endlich mußte dieser Rückweg doch angetreten werden. Jetzt wurde die Reihenfolge umgekehrt, und zwar dienten die Anstiegstufen als Treppe, nicht als Leiter, d.h. es wurde nicht das Gesicht, sondern der Rücken der Schneewand zugekehrt. Mein Freund hätte das umgekehrte Verfahren bevorzugt, es konnte ihm dies aber nicht gestattet werden; die einzige Vorschrift war, den Fuß, der einen Schritt abwärts that, fest in die Stufe fallen zu lassen, um sie auf diese Weise etwas zu vertiefen, und möglichst wenig nach unten zu sehen, damit man nicht von einem plötzlichen Schwindel gepackt werden konnte. Die Steigeisen waren hierbei entbehrlich. Der Abstieg nimmt natürlich viel weniger Zeit in Anspruch, als der Anstieg, der durch's Stufenschlagen verlangsamt wird, und als wir wieder am Fuße unseres Zuckerhutes standen und den Blick zurück zur Spitze wandern ließen, da schien es gleich wunderbar, daß man hinauf, wie daß man heruntergekommen. Der Rückweg nach der Hütte erfolgte im vollen Mittagssonnenbrande und vervollständigte das prachtvolle Rothbraun des nackten Halses und des Gesichtes.

Die weiten Schneeflächen wurden so liebevoll von der Sonne beleckt, daß sie die Symptome der Erweichung zeigten und an der Oberfläche zu schmelzen begannen; in den späteren Nachmittagsstunden gleicht sich das wieder aus. Auf den zackigen Höhen zu unserer Linken wurden wir einiger Gemsen ansichtig; nachdem Giacinto's geübtes Auge sie ausgespäht, gelang’s schließlich auch uns, die uns in argwöhnischer Haltung beobachtenden scheuen Grattiere vom gleichfarbigen Gestein abzulösen.

Der Führer eilte jetzt: nachdem alle Schneebrücken glücklich passirt waren, durfte über große, nicht allzu steile Schneehalden kurzer Hand „abgefahren“ werden. Man stellt dabei den Pickel mit der Spitze nach unten links von sich rückwärts, so daß man mit dem Körper auf ihn drückt, setzt den einen Fuß vor und regulirt die Eile des Abwärtsgleitens durch den Pickel, der als Bremse wirkt. Das ist eine lustige Fahrt, die besonders anzurathen ist, wenn auf festem Schnee eine dünne Schicht Neuschnee liegt; natürlich muss der Körper zurückgebogen bleiben, sonst ist Gefahr vorhanden, sich zu überschlagen. Es kommt schließlich auch einmal vor, daß man sich nicht mehr erhalten kann und den Rest der Fahrt sitzend zurücklegt; dann legt man den Pickel über die Kniee und bedient sich seiner als Balancirstange oder man verankert sich, indem man die Spitzhacke in den Schnee drückt und beim Weiterfahren den Eschenstab mit beiden Händen fängt, dann kommt man leicht wieder zum Stehen. Gibt’s allerdings viele und starke Unebenheiten auf einer solchen Schneehalde, so wird das Abfahren sehr angreifend und ermüdend, namentlich das stehende Abfahren; das sitzende hat den Nachtheil, daß man sich die Hose stark durchnäßt, was wohl von Niemand zu den höheren Annehmlichkeiten gerechnet werden wird.

Liegen am Fuße der Halde viele und große Steine - und das ist gewöhnlich der Fall - so ist es besser, man läßt die Führer vorausfahren und warten; man kann sich dann nöthigenfalls von ihnen abfangen lassen und läuft nicht Gefahr, mit aller Wucht in die Steine hineinzusegeln und an irgend einen groben Block anzuprallen.

Als wir die Schnee- und Eisregion ganz verlassen hatten und aus der Seilschlinge geschlüpft waren, in der wir uns so lange hatten bewegen müssen, beschleunigten die Führer ihr Marschtempo noch mehr, damit wir bereits heißes Wasser fänden, wenn wir nach der Hütte kämen. Wenigstens war dies die offizielle Lesart; nach der meines Freundes war es die Absicht des Trägers, sich einige Momente ungestörten Alleinseins mit der halben Flasche Rum zu sichern, die mein Freund am Abend zuvor „angerissen“ hatte, um sein Bein einreiben zu können. Ich neige zwar nicht zum Mißtrauen, muß indeß zugeben, daß der Inhalt der Flasche bei unserer Ankunft auf ein Minimum zusammengeschwunden war, und daß sich der Verlust an Volumen auch beim größten Optimismus durch Verdunsten nicht erklären ließe.

Der Weg durch die Steinpartien, der uns früh so lästig gewesen war, ist sorgfältig markirt, man wird indeß der Hütte nicht früher ansichtig, als bis man fast vor ihr steht; es lagen ja Tausende von Blöcken umher, die ziemlich denselben Umfang hatten wie sie, und inmitten der gewaltigen Hochgebirgsnatur ist so eine Hütte ein verschwindend kleines Objekt. Jetzt, wo alles überstanden war, machte ich meinen Freund auf eine, mit der Messerspitze in die eiserne, äußere Hüttenthür eingeritzte Inschrift aufmerksam, welche ihre düstere Geschichte hat: „G. Rudd“ und darüber das Datum. Das ist die Spur eines in der Schnee- und Eisöde Verschollenen. Der amerikanische Maler G. Rudd war zwei Jahre vorher ohne Führer in leichter Kleidung ohne Stock und ohne Bergschuhe von Pinzolo nach der Hütte aufgebrochen; er hatte, obgleich gewarnt, nicht einmal den Schlüssel zur Hütte mitgenommen und - von der Hütte an fehlt jede, auch die leiseste Spur des Unglücklichen, obgleich die ganze Gegend auf's Sorgfältigste abgesucht worden ist, nachdem der Mann überhaupt vermißt worden war, und die Nachforschungen nach ihm ihren Weg nach Pinzolo gefunden hatten.

Die Durchsuchung ist eine umso sorgsamere gewesen, als feststand, daß Rudd eine ziemlich bedeutende Summe bei sich führte: er wollte mit derselben die Anzahlung auf eine in der Gegend von Bozen oder Meran erworbene Villa leisten. Der Gedanke an ein Verbrechen kann fast als ausgeschlossen gelten, es ist vielmehr die höchste Wahrscheinlichkeit dafür vorhanden, daß Rudd von der Hütte aus die Markirung verfolgt und am Saum des Gletschers beschlossen hat, ein Stück auf demselben fortzugehen, aber in eine Spalte gestürzt und elend zu Grunde gegangen ist. Bei der ganzen Art seiner Ausrüstung, die auf hochgradige Unerfahrenheit in alpinen Dingen schließen läßt, kann man ihm selbst ein so vermessenes Wagniß zutrauen, und das Ende war dann kein überraschendes.

Eine sorgfältige Untersuchung des baulichen Zustandes der Hütte, die ich dem Hüttenwarte versprochen hatte und die sich bis auf die Schindel des Daches erstreckte, der Tourenbericht für's Hüttenbuch und eine Karte in die Heimath nahm die Zeit nach dem Essen in Anspruch; die Dämmerung wob bereits ihre Schleier um die Hütte, als sich noch ein Schlafgast für die Nacht meldete, dem wir seiner unheimlichen Länge und Magerkeit und seines phantastischen Hütchens wegen sofort den Beinamen „Rübezahl“ verliehen. Er war allein von Pinzolo heraufgestiegen, da er ja eine Partie mit zwei Führern oben in der Hütte wußte, die ihm schlimmsten Falles auf dem Abstiege begegnet wären; nun schnaufte er aber gehörig und brauchte lange Zeit, bis er über einzelne, abgerissene Worte hinaus der Rede mächtig ward. Ich kümmere mich auf der Reise grundsätzlich nicht um Name oder Stand meiner zufälligen Weggenossen, sondern weiche der formellen Vorstellung so lange als möglich, d.h. am liebsten ganz aus; hier konnte man unschwer die Diagnose „Gymnasiallehrer“ stellen, und ich habe an dem Herrn die Hochachtung und die zarten Rücksichten bewundert, die er seinem lieben, langen Leichnam auch in den Bergen bewies; augenscheinlich war dieser Leichnam ein etwas difficiler und übelnehmischer Herr, zu dem er „Sie“ sagen mußte. Dieser Besuch kam uns insofern gelegen, als er uns Giacinto abnahm, um mit demselben die kleine Tour nach der Cima di Presena zu machen; wir konnten denselben entbehren und würden ganz gern auch den Träger abgetreten haben, da wir den Weg nach Pinzolo zurück recht wohl alleine hätten zurücklegen können.

Obgleich ich aus den Vorräthen der Hütte ein ganz gutes Abendessen zusammengestellt hatte und im Stande gewesen war, demselben kräftig zuzusprechen, während ich bei Hochtouren häufig an Appetitlosigkeit, oder doch an Widerwillen gegen konsistente Nahrung leide, ließ die Nachtruhe zu wünschen übrig. Einen gewisse Ueberreizung der Nerven ließ mich im Halbschlummer fortwährend an der Wand des Adamello klettern, wobei natürlich eine Stufe versagte, oder Einer von uns ausglitt und nur mit äußerster Anstrengung gehalten werden konnte; der tiefe, traumlose Schlaf, der allein erquickt und stärkt, blieb aus, und so begrüßte ich mit einem Gefühl der Erleichterung den Morgen, der die phantastischen Bilder der Nacht verscheuchte. Um sechs ging Giacinto mit dem Herrn Professor nach de Cima, mein Freund und ich stiegen mit dem Träger abwärts nach Pinzolo, wo wir um Mittag eintreffen wollten. Diese Rechnung sollte allerdings einer bedenklichen Korrektur unterliegen, welche meines Freundes rechtes Bein unternahm. Vielleicht hatte demselben das Abfahren den Rest gegeben, kurz, es benahm sich höchst ungebärdig. War es mir schon aufgefallen, daß mein Gefährte beim Aufbruch seinen Rucksack in den des Trägers steckte, so hatte ich bald zu bemerken, daß er beim Absteigen häufig rastete und dadurch zurück blieb; er klagte nicht, aber man sah ihm an, daß ihm der Abstieg sauer wurde. Dennoch war ich überrascht, als er, an der italienischen Hütte angelangt, plötzlich erklärte, keinen Schritt weiter thun zu können und hier liegen bleiben zu müssen, was auch daraus werden solle. Der Schmerz

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Rudolf Lavant: Eine Bergfahrt in Süd-Tirol. Goldhausen, Leipzig 1900, Seite 279. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eine_Bergfahrt_in_S%C3%BCd-Tirol_36_02.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)