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Eine Hütteninspektion mit Hindernissen.
Von Rudolf Lavant.

Die freundlichen Leser der Adamello–Besteigung, die ich früher einmal geschildert habe, dürfte es wohl interessiren, zu erfahren, wie es im Hochgebirge aussieht, wenn die Schneefälle und Stürme des Spätherbstes die Berge und Thäler Südtirols in ihr winterliches Gewand gehüllt und die Touristenschwärme verscheucht haben, die in den Sommermonaten die Sarca aufwärts zogen und in dem stattlichen Leipziger Schutzhaus am Mandron die Küche und den Komfort eines städtischen Hôtels fanden. Es ist ein gewaltiger Unterschied zwischen einem langen Julitag unter den lichtgrünen Lärchen, die die Casina Bolognini beschatten, und zwischen einem kurzen Oktobertag nach schwerem Schneefall, und der nervenstählende Spaziergang verwandelt sich in ein den stärksten Mann bis zur Erschöpfung auspumpendes, festen, unbeugsamen Willen und kaltes Blut erforderndes Unternehmen, das sich in allen seinen Einzelheiten der Erinnerung unauslöschlich einprägt.

Sicherlich ist es schwer, Demjenigen, dem es nie vergönnt war, seine Ausdauer und seine Abhärtung gegen Witterungseinflüsse im Hochgebirge auf die Probe zu stellen, einen auch nur annähernden Begriff von der Großartigkeit und Wildheit zu geben, die sich ihm, wenn der Winter sein Regiment angetreten, auf Schritt und Tritt abwehrend und finster in den Weg stellen, und da ich es mir zum obersten Gesetz gemacht habe, lieber zu matt als zu farbig zu schildern und mich vor jeder unwillkürlichen Uebertreibung ängstlich zu hüten, begebe ich mich beinahe der Möglichkeit, meinem Stoff gerecht zu werden. Aber ich will lieber zu diskrete Farben wählen, als mich der Gefahr aussetzen, der Aufschneiderei verdächtig zu werden; Jäger und Touristen lügen ja nach dem allgemeinen Glauben gewohnheitsmäßig und man pflegt ihnen scharf auf die Finger zu sehen. Die Zahl Derer, die eine solche Wintertour hinter sich haben, ist eine sehr kleine, wenn es auch bereits eine kleine begeisterte Gemeinde giebt, die „Wintertouren“ auf ihre Fahne geschrieben hat; mir scheint, gerade dieser Umstand rechtfertigt mein Unternehmen, meine freundlichen Leser einmal im Winter in die Hochgebirgsregion zu führen und ihnen zu erzählen, wie es da oben aussieht, wenn der Hunger die Gemsen hinuntertreibt in die waldigen Hänge, an deren Fuß die Sarca als dünnes Rinnsal aus der Gletscherzunge des Mandronferners hervortritt.

Windgepeitschte Regengüsse am Zitronenufer des Gardasees, am nächsten Tage verdrießlich plätschernder Regenfall in Arco, so daß man keinen Fuß aus dem Hause setzen konnte – das waren böse Aussichten für einen Aufstieg nach dem neuen Leipziger Schutzhause am Mandronferner, denn es war bereits in der zweiten Hälfte des Oktober, und da selbst der Monte Baldo sich schon eine tüchtige Schneehaube aufgestülpt hatte, ließ sich auf schweren Neuschnee im Val di Genova schließen, und wie es in 3000 Meter Meereshöhe aussehen würde, war nicht leicht zu sagen. Dennoch musste der Versuch unternommen, dennoch mußte er, wenn irgend möglich, durchgeführt werden, denn mein Rucksack barg ein großes, komplizirtes Kunstschloß, das neben dem gewöhnlichen Alpenvereinsschloß angebracht werden sollte, um das neue Haus den Winter über besser gegen unerbetenen Besuch zu schützen, der neuerdings leider Mode geworden ist. Außerdem war festzustellen, ob die bei der Einweihung noch vorhanden gewesenen Mängel sämmtlich beseitigt und ob das Heim genügend gegen die Schneestürme des Winters gesichert und verwahrt sei: Grund genug für mich, an die Ausführung meines Vorhabens Kopf und Kragen zu setzen und die Sorgen und Zweifel des Hüttenwarts, wenn irgend möglich, zu zerstreuen.

Mein Reisegefährte, obgleich verhältnismäßig ein Neuling im Hochgebirge und dabei etwas stärker und schwerer, als dies wünschenswert ist, hatte guten Muth, wir ließen uns also am dritten Tage von der Post über Alle Sarghe am Toblinosee und durch das tiefeingerissene Sarcathal nach Tione und weiter durch's Val Rendena nach Pinzolo kutschiren. Schon in Alle Sarghe hatte ein frischer Nordost sich ungestüm über das grauschwarze, schleppende Regengewölk hergemacht und es nach allen Seiten zerblasen; das ließ für den nächsten Tag ein Aufhören der Niederschläge erwarten. Freilich gaben die das Val Rendena begleitenden Gebirgszüge bereits einen Vorgeschmack des zu Erwartenden; die Berge waren bis zum Fuße herab stark angeschneit und die mir so wohlbekannte Gegend hatte einen fremdartig-hochalpinen Anstrich bekommen.

Als unser vorsündfluthlicher Rumpelkasten endlich in der Dämmerung in Pinzolo hielt, öffnete der Führer Liberio Collini, dem ich telegraphirt hatte, den Wagenschlag und führte uns nach Hotel Pinzolo, das wie ausgestorben, finster und stumm dalag. Der alte Onkel des in Arco weilenden Besitzers, der mit seiner Frau das Haus hütete, kam zwar nach einigem Pochen und Rufen zum Vorschein, meinte indessen sehr kleinlaut, die Zimmer könnten wir uns nach Belieben heraussuchen, sie hätten aber kein Fleisch, denn in ganz Pinzolo sei so spät im Jahre höchstens etwas stinkendes Hammelfleisch aufzutreiben. Nun, dieser Fall war von uns vorgesehen; wir brachten von Arco ein tüchtiges Stück guten Rindfleisches mit, das für mehr als eine Mahlzeit reichte, und bald prasselte ein lustiges Holzfeuer und verhalf uns zu ein paar Beefsteaks mit patate fritte (Schmorkartoffeln), wie man sie auf welschem Boden kaum besser bekommen kann.

Dann folgte die Berathung mit Liberio und seinem Bruder Amanzio. Resultat: Es wird gehen, wenn beide Brüder uns begleiten, leicht allerdings nicht und nur mit Schneereifen. Der alte Onkel freilich schüttelte sein Haupt: der Schnee liege zu hoch, wir kämen von Bedole aus nicht mehr durch. Nun, wir hielten uns natürlich an die Brüder Collini, und am nächsten Morgen ging es bei leichtem Frost guten Muthes vorwärts. Die erste kleine Kapelle am Wege veranlaßte unsere Führer, ihre Häupter zu entblößen und eine gute Weile in stummem Gebete zur Madonna zu flehen. „Auch ein Symptom – die Sache ist also kitzlich!“ dachte ich, denn ich war solche Frömmigkeit, die bei einem Nordtiroler etwas Alltägliches ist, an ihnen nicht gewöhnt, obgleich ich schon manches nicht ganz Harmlose mit ihnen ausgeführt hatte. Meinem Reisegefährten gegenüber, der vergnügt darauf losstiefelte und sogar seinen geliebten photographischen Apparat mitschleppte, behielt ich meine Wahrnehmung für mich – wozu ihn vor der Zeit bedenklich oder gar kopfscheu machen?

Das uralte Kirchlein von San Stefano unter seinen mächtigen Edelkastanien, die entlaubte Zweige zum bleigrauen Himmel streckten, der Nardisfall, an den der Aufstieg zur Presanella beginnt, die drei markanten Thalstufen, von denen jede durch einen prächtigen Sturz der Sarca bezeichnet wird, all' diese Einzelbilder vielleicht der schönsten Wanderung, die Südtirol zu bieten hat, zogen an uns vorüber und noch kein Schnee! Freilich, die Ketten und Kämme und Spitzen, die sich immer zahlreicher eine hinter der anderen vorschoben, wie in einer Wandeldekoration, sahen garnicht so gemüthlich aus, wie im Sommer und Frühherbst; es lasteten schwere Schneemassen auf ihnen, und als wir nach dreistündigem

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Rudolf Lavant: Eine Hütteninspektion mit Hindernissen. Goldhausen, Leipzig 1903, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eine_H%C3%BCtteninspektion_mit_Hindernissen_5_01.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)