Seite:Eine Hütteninspektion mit Hindernissen 5 02.jpg

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Marsch die kleine, von himmelanstrebenden Wänden flankirte und vorn vom Mandronferner geschlossene Hochebene von Bedole erreichten, bekamen wir auch hohen gefrorenen Schnee unter die Füße, und der schlichte Denkstein für den infolge eines Fehltritts in den Wänden verunglückten Professor Mighetti nahm sich in dieser Winterlandschaft doppelt schwermüthig aus. Hier kam uns auch das erste menschliche Wesen zu Gesicht, ein Gemsjäger aus Pinzolo, der dem „Schweiß“ eines angeschossenen starken Bockes nachging und der nicht wenig erstaunt war, auf uns zu stoßen, während wir wußten, daß wir in der Casina Bolognini, der kleinen Schutzhütte der Tridentiner Alpinisten, hinter welcher der von der Sektion Leipzig erbaute Steig zu deren Mandronhaus beginnt, vier Jäger aus Pinzolo antreffen würden. Bei dem massenhaften Schneefall in den Höhen trieb der Hunger die scheuen Gratthiere (die übrigens auch unweit des Mandronhauses nicht selten geschossen wurden, an einer Salzlecke, die menschliche Schlauheit benutzt, um sie anzulocken), die oben schlechterdings keine Nahrung mehr finden, zu keinem Hälmchen mehr gelangen konnten, über den Passo dei camosci (Gemsenpaß) herab in die waldigen Wände, und hier waren sie auf dem Anstand verhältnismäßig leicht zu erlegen. Man hatte in der That bereits vier schöne Gemsen erbeutet und zwei lagen noch irgendwo in einer Schlucht und mußten gesucht werden. Unter der bisherigen Beute, die, aufgebrochen und ausgeweidet, außerhalb der Hütte mit den Krickeln an in die Wand des Blockhauses getriebenen Nägeln hing, befand sich auch ein sehr starker alter, fast schwarzer Bock mit nur einem Krickel; das andere ist ihm jedenfalls beim Kampf mit einem Nebenbuhler abgebrochen, nachdem die beiden Eifersüchtigen sich in blinder Wuth „verkämpft“ hatten.

Die drei anderen Jäger, die wir bei der Bereitung ihres Mittagsmahles (natürlich die unvermeidliche Polenta!) antrafen, begrüßten uns sehr freundlich, kratzten sich aber hinter den Ohren, als wir fragten, ob wir wohl hinauf nach Mandron gelangen würden. Sie meinten, es liege 3 bis 3 ½ Meter hoher Schnee und die Passirung der Brücken über die Schluchten werde sehr schwierig sein, obendrein bei Nacht. Das kam mir spanisch vor; es war knapp Mittag, man erreicht Mandron von Bedole aus in zwei Stunden und wenn wir auch eine Zeit lang die Schneereifen anschnallen mußten, konnte es doch kaum fehlen, dass wir noch vor Einbruch der Dämmerung unter Dach und Fach gelangten und an die Bereitung eines kunstgerechten Glühweins gehen konnten. Vielleicht habe ich auch ein wenig überlegen gelächelt; für was hielten uns denn diese ländlichen Nimrode, daß sie glaubten, wir würden uns von dem bischen Schnee so lange aufhalten lassen oder mit der Technik des Gehens auf Schneereifen nicht zurecht kommen? Aber das Lächeln sollte mir bald vergehen, ebenso wie die Verwunderung über die Laterne, welche unsere Führer aus der Hütte mitnahmen, als wir nach einstündiger Rast aufbrachen.

Schade, daß die unzulängliche Beleuchtung das Photographieren unmöglich machte! Unsere vier Gemsenjäger hätten es sicherlich verdient, verewigt zu werden, wenn auch nur deshalb, weil sie so trefflich geeignet waren, falschen romantischen Ideen für immer den Garaus zu machen. Die Kerle kampirten schon seit drei Tagen in der Hütte; während dieser Zeit hatte sicherlich Keiner von ihnen auch nur eine Fingerspitze in's Wasser getaucht, dafür aber hatte der Qualm des fortwährend unterhaltenen Herdfeuers ihre Gesichter gar gründlich incrustirt, und mit ihren Stoppelbärten und in ihren bis zur Unglaublichkeit geflickten Kleidern sahen sie recht brigantenmäßig aus. Die Gamaschen z.B. bestanden aus einem Stück Packleinwand, daß man mit irgend einem zerschlissenen Seilende umwunden hatte, kurz, diese welschen Waidmänner, obgleich die Harmlosigkeit selber, hatten durchaus nichts Vertrauenswürdiges, waren aber dafür „malerisch“ bis zum Exceß.

Hinter der italienischen Hütte hat man noch eine Weile schönen Lärchenwald; die abgefallenen welken Nadeln bedeckten den Schnee am Boden so dicht, daß er roth erschien. Als aber der Wald aufhörte und wir hinaus ins Freie kamen, ungefähr den Windungen des Mandronsteigs folgend, schüttelte auch Amanzio, der jüngere und verwegenere der beiden Brüder, den Kopf. Ich sondirte ihn, indem ich fand, es gehe besser, als ich gedacht hätte, obgleich wir schon ordentlich zu waten hätten; er aber meinte sehr entschieden, es gehe viel schlechter, als er vorausgesetzt. Wenn man schon hier so tiefen Schnee habe, wie solle es erst oben an der Ronchinaschlucht aussehen! Gehe es so fort, so müßten wir in fünf Minuten die Reifen anlegen und das bedeute zwei Stunden spätere Ankunft auf Mandron. Er habe sich schon so etwas gedacht, darum habe er uns so eindringlich ermahnt, tüchtig zu essen und zwar nicht bloß Erbswurstsuppe, sondern auch Fleisch, damit wir etwas aushalten könnten, aber so schlimm habe er sich die Sache doch nicht vorgestellt. Das waren ja hübsche Aussichten! Gut, daß mein Freund kein Italienisch verstand und also nicht erfuhr, was seines schweren Leichnams harrte!

Was Amanzio vorausgesehen, trat ein; nach wenigen Minuten schon barg er sein Gewehr, um sich’s leichter zu machen, zwischen dem Wurzelgeflecht einer mächtigen abgestorbenen Lärche und wir legten sämmtlich die Reifen an; dieselben verhindern bekanntlich das tiefere Einsinken in den Schnee, weil die Körperlast sich auf eine erheblich breitere Fläche, als die Sohle des Fußes es ist, vertheilt, während die aus einem dünnen Faßreifen und aus Bindfadengeflecht bestehenden runden oder besser ovalen Schneereifen sehr leicht sind. Die Schwierigkeit besteht nur darin, so breitbeinig zu gehen, daß nicht etwa der Reifen des Fußes, den man nachzieht, auf den des ruhenden zu stehen kommt, denn sonst ist dieser, wenn er wieder ausschreiten will, einfach festgehalten. Das Gehen auf Schneereifen ist bald gelernt, es ist außerordentlich praktisch und sogar oft das einzige Mittel, über tiefen, weichen Schnee aufwärts zu gelangen, aber langsam geht die Sache allerdings und ermüdend ist sie auch. Der Vorausgehende hat es noch am besten, die Anderen aber, welche in seine Spur treten sollen, vertiefen dieselbe doch so sehr, daß der Letzte oft große Mühe hat, den Fuß mit dem Reifen wieder aus der Versenkung zu bringen. Es war noch an keine Ronchina zu denken, als bereits die Dunkelheit hereinbrach und die Laterne angezündet werden musste, und da die Nacht sternenlos und trübe war, tappten wir eben Stunden lang mechanisch aufwärts, im Vertrauen darauf, daß die Führer die Richtung behalten und sich nicht am Ende verirren würden. Das war nicht gerade kurzweilig, namentlich dann nicht, als Amanzio, der die Spitze gehabt hatte, einmal wirklich unsicher wurde; er blieb stehen, rief seinen Bruder vor und als dieser sich eine Weile umgesehen hatte, ging es erst ein Stück zurück und dann ein Stück aufwärts, über einen ungemüthlich steilen Hang – dann war alles wieder in Ordnung.

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Rudolf Lavant: Eine Hütteninspektion mit Hindernissen. Goldhausen, Leipzig 1903, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eine_H%C3%BCtteninspektion_mit_Hindernissen_5_02.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)