Seite:Foerster Klassische Philologie der Gegenwart 10.jpg

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Unläugbar ist ferner, dass die Ziele, deren Erreichung nur dem Scharfsinn und der Kombination gelingt, heut höher gesteckt sind. Dies gilt namentlich von der Emendation. Eine Textverbesserung hat heut ganz anderen Ansprüchen zu genügen als vordem. Nicht selten wird, was Jahrhunderte lang als eine Verbesserung im Texte stand, unbarmherzig ausgestossen, und wie lange besinnt sich ein gewissenhafter Herausgeber, ehe er eine Konjektur in den Text einsetzt! Selbst darauf ob sie dem Verhalten eines Schriftstellers zum Hiatus entspricht oder nicht, wird sie streng geprüft.

Das Interpolationsgespenst, welches lange Zeit umging, ist wenigstens in sehr vielen Fällen glücklich beschworen worden. Und die einstmalige Panacee Schwierigkeiten einer Stelle dadurch zu heben, dass man dieselbe für untergeschoben erklärte, hat man als das was sie ist, als Scheinkur erkannt. Dies hat nicht am wenigsten zur Gesundung der lange Zeit selbst kranken Kritik geführt. Dieselbe ist im besten Sinne konservativ geworden. Nicht dass sie die Handschriften anbetete und alles geschriebene Wort auf Treu und Glauben annähme; aber sie prüft in erster Linie, was sie zuzulassen habe im Hinblick auf den Sprachgebrauch, die Individualität, die dem Talente eines Schriftstellers gesteckten Gränzen, die Tendenz desselben, den Geschmack seiner Zeit, die Beschaffenheit, in welcher er sein Werk hinterliess, Spuren von Ueberarbeitung seitens des Schriftstellers selbst oder anderer. Wenn die Urteilssprüche eines ‚Minos‘, ‚Aeacus‘ und anderer Todtenrichter schon zu der Zeit, da sie gefällt wurden, wenigstens bei besonnenen Forschern lebhaften Unwillen hervorriefen, wenn sich gegen die Athetese eines grossen Teils des Horaz, der Elegiker, des Juvenal, des Platon sogleich Widerspruch erhob, so hat selbst das Verdikt, welches ein Moriz Haupt über die Consolatio ad Liviam als ein Werk der Renaissance aussprach, sich nicht in Geltung erhalten können: das Gedicht ist zwar nicht als ovidisch, wol aber als ein Werk des ersten oder zweiten Jahrhunderts n. Chr. anerkannt worden, und

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Richard Foerster: Die Klassische Philologie der Gegenwart. Universitäts-Buchhandlung, Kiel 1886, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Foerster_Klassische_Philologie_der_Gegenwart_10.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)