Seite:Foerster Klassische Philologie der Gegenwart 19.jpg

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Und um zur zweiten der oben verneinten Fragen zu kommen, der akademische Lehrer der klassischen Philologie soll zwar in erster Linie künftige Gymnasial-Lehrer heranbilden, aber nimmermehr tut er das richtig, wenn er sie nur dazu anhält sich die für den Unterricht im Griechischen und Lateinischen erforderlichen Kenntnisse anzueignen. Vor allem soll er sie lehren wissenschaftlich arbeiten. Damit gibt er ihnen fürs erste und zum ersten Male das unersetzliche Gefühl der Schaffensfreudigkeit, aber auch einen für immer unverlierbaren Segen, der sie frisch erhält und Anfechtungen mannhaft bestehen lässt, der sie befähigt nicht nur Lücken in den eignen Kenntnissen und Fähigkeiten auszufüllen, sondern auch überhaupt erst in jugendlichen Gemütern Sinn für Wahrheit und Wissenschaft zu wecken. Keiner soll ein Exerzitienmeister, jeder soll Philolog werden.

Zu solcher selbstständigen Bestellung aber sind alle Gebiete der Philologie gleich gut; es kommt nur darauf an, dass die Aufgaben den Kräften entsprechen und unter richtigem Gesichtspunkt d. h. wieder im Hinblick aufs Ganze gestellt seien. Linguistische Studien führen in das Wesen der Sprachbildung, syntaktische in den Sprach- und damit in den Volksgeist, metrische in die Stätte dichterischen Wirkens ein; sie alle sind für den Philologen um so wertvoller, als sie die Grundlage seiner Forschung bilden und auf der von ihm sonst weniger geübten Methode der Induction beruhen. Kritik ist die ‚Wage und Hüterin der Wahrheit‘, macht den Kopf hell, übt den Scharfsinn und gibt, richtig betrieben, auch eine vorzügliche Anleitung zur Auffassung eines historischen Processes; Litteratur- und Kunstgeschichte führt in die Betrachtung der edelsten Schöpfungen des Menschengeistes ein, die Beschäftigung mit der alten Philosophie insbesondere mitten in die Probleme der Psychologie, Erkenntnistheorie und Ethik; Mythologie führt an die Wurzeln religiöser Vorstellung. Die Beschäftigung mit dem antiken Staate befähigt zur Auffassung des Werdeprocesses staatlichen Lebens überhaupt; die Vertiefung in das griechische und noch mehr in das römische

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Richard Foerster: Die Klassische Philologie der Gegenwart. Universitäts-Buchhandlung, Kiel 1886, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Foerster_Klassische_Philologie_der_Gegenwart_19.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)