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Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache

abgesehen) ein rein psychologischer Prozeß ist – in einer Sprache so gut wie in der anderen. Wohl kann eine Sprache, die scharf ausgeprägte Endungen und in einem Heer satzregierender Wörtchen wie „weil“, „als“, „damit“ usw. die Möglichkeit zu künstlich gegliederter Satzfügung besitzt, die Beziehung der einzelnen Worte aufeinander, die Unter- oder Überordnung der einzelnen Gedanken besonders klar ausdrücken; und das Latein war in diesem Falle, denn die scharf ausgeprägten Endungen hatte es sich zu einem guten Teil seit der italischen Urzeit bewahrt, die satzregierenden Wörtchen allmählich herausgebildet. Nichtsdestoweniger konnte man im Lateinischen genau so unlogisch reden wie im Deutschen – und hat nicht weniger oft so unlogisch geredet. Wer das bestreitet, hat nicht nur Ciceros Sprache nie mit scharfen Augen betrachtet, sondern vergißt vor allem, daß, wer um der logischen Ausdrucksweise etwa der klassischen Juristen willen von dem „logischen Latein“ redet, ebensogut um Lessings willen von einer eminent logischen Natur der deutschen Sprache reden dürfte.

Das Latein eine nüchterne Sprache?Aber wenn hier ein günstiges Vorurteil zu zerstören war, so kann man zum Entgelt auch manches ungünstige vom Latein abwälzen. Grillparzer hat einmal gefragt: „Fällt es jedermann so schwer als mir, sich eine junge Römerin zu denken, die mit ihrem Heißgeliebten von ihrer Leidenschaft – lateinisch spricht?“ Er drückt etwas konkreter aus, was man gewöhnlich recht abstrakt die Nüchternheit der lateinischen Sprache nennen hört. Auch hier soll eine gewisse Berechtigung solchen Urteils nicht völlig bestritten werden. Um nur eins herauszugreifen: einen schönen Schmuck poetischer Rede pflegen Zusammensetzungen, insbesondere zusammengesetzte Beiwörter zu bilden. Die indogermanische Muttersprache vererbte ihren Töchtern fast unbegrenzte Möglichkeiten solcher Bildung, und diejenigen ihrer Töchter, die in der Poesie das Höchste geleistet haben, sie haben auch von jenen Möglichkeiten den umfassendsten Gebrauch gemacht: das Griechische und das Germanische. Aber dem Lateinischen ist dieser schöne Zug fast völlig abhanden gekommen; nur kümmerliche Pflänzchen ringt mühselige Kunst dem Boden ab, der anderen Sprachen, kaum bestellt, reichste Blüten und Früchte trägt. Die Schuld trägt hier wirklich zu gutem Teil die unpoetische Natur der Römer. Kein Volkslied, kein aus dem Volk hervorgewachsenes Epos kräftigt die indogermanischen Keime der Wortzusammensetzung, und als die Übersetzung und Nachahmung griechischer Meisterwerke eine Kunstpoesie schafft, sind die Keime nicht mehr recht triebfähig. Freilich waren sie zugleich auch von den vorhin geschilderten lautlichen Verstümmelungen besonders schwer betroffen worden.

Leidenschaft in der literarischen Sprache.Dies und Ähnliches soll nicht bestritten werden; darum aber dem Latein die Fähigkeit zu Ausbrüchen tiefen Gefühls und wiederum andererseits etwa zu zärtlicher Tändelei absprechen und meinen, daß himmelhoch Jauchzende und zu Tode Betrübte stumm bleiben mußten, wenn sie das

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache. B. G. Teubner, Leipzig 1913, Seite 537. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Griechische_und_Lateinische_Literatur_und_Sprache.djvu/549&oldid=- (Version vom 1.8.2018)