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Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache

Poesie reichlich früh. Denn die letzten wirklich großen Dichter der Republik zeigen sich noch in wesentlichen Stücken als Anhänger älterer Art gerade im Sprachlich-Stilistischen, Lucrez im ganzen Verlauf seines umfangreichen Lehrgedichts über die Entstehung des Alls, Catull wenigstens in seinen größeren Gedichten. Lucrez baut wohl längere, wenn auch nicht viel elegantere Perioden als Ennius; im übrigen ist er der getreue Nachahmer des alten Dichters in Wortwahl, Wortbildung, Wortfügung. Catull mit seinen gleichstrebenden Freunden aus Oberitalien ist zwar mit Erfolg auf größere Zierlichkeit bedacht und glaubt von der Höhe dieser Eleganz auf den Vater der römischen Poesie mit Geringschätzung herabblicken zu dürfen, und doch mißfällt auch bei ihm, gerade in den Stücken, die er als seine künstlichsten schätzte, die Störung des Satzflusses durch Einschachtelungen, Wortverstellungen, übermäßige Länge u. a. Als vollendeter Künstler und Vorbild aller weiteren auf dem Gebiet der Dichtersprache ist erst Vergil.Vergil zu nennen mit den im Jahre 29 veröffentlichten Georgica und der nach seinem Tode erschienenen Aeneis. Hier verschmilzt alles zu schöner Einheit, der lateinische Sprachstoff mit den ihm innewohnenden Eigenschaften der Kraft und des Vollklangs, die griechische Kunst in der Behandlung des sprachlichen Materials, die altvaterische Einfachheit und die moderne Gewandtheit im stilistischen Aufbau. Eine außerordentlich geschickte Mischung von Altertümlichem, kühnen Neuerungen und Gräzismen – das ist Vergils Sprache. Eine Mischung, so geschickt, daß aus der anscheinend homogenen Masse vielfach nur die allerfeinste Untersuchung noch die einzelnen Elemente wieder herausdestillieren kann. Das Geheimnis der Mischung hat er in wesentlichen Stücken den griechischen Dichtern der Alexandrinerzeit, wie Kallimachos, abgesehen, die ihre Sprache in ähnlicher Weise aus Wendungen des alten Epos, der attischen Tragödie und aus eigenen Neuerungen zusammensetzten. Den größten sprachlichen Fortschritt Vergils aber zeigt seine Periodisierung in ihrem Verhältnis zum Hexameter. Die schwer schleppenden Sätze des Lucrez und Catull sind verschwunden, leicht und glatt ist der Gang der Periode, dem Gang des Verses angepaßt. Und wie Vergil von den älteren Dichtern nahm, was ihm sprachlich geeignet schien, gleichviel ob sie Dramatiker oder Epiker waren, so hat er die Unterschiede der Dichtgattungen, die sich in der älteren Diktion nicht unmerklich ausprägen, für die spätere Dichtersprache im ganzen beseitigt. Er hat der Poesie seines Volkes das Kleid gegeben, in dem sie, von leichten Modernisierungen und Verzierungen abgesehen, durch die Jahrhunderte gefallen hat. Horaz.Horaz hätte ihm diese Rolle streitig machen können; denn er zeigt kaum geringere stilistische Qualitäten schon in Dichtungen, die den ältesten Vergilischen zeitlich gleichkommen. Aber sein Genre hat ihm die Nachwirkungen versagt, die nur dem zugleich durch seinen Inhalt und seine Masse wirkenden nationalen Epos beschieden sein konnten.

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache. B. G. Teubner, Leipzig 1913, Seite 542. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Griechische_und_Lateinische_Literatur_und_Sprache.djvu/554&oldid=- (Version vom 1.8.2018)