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Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache

Römern längst dagewesen ist, nur eben jetzt eine nie zuvor dagewesene Häufung und Verstärkung erfährt, so ist auch die Sucht, Pointen in schlagenden Gegensätzen, Antithesen, zum Ausdruck zu bringen, alt, aber erst jetzt wird sie zu einer wahren Epidemie. Und wenn ein Teil der Schriftsteller dieser Sucht noch in der Form der voll dahinrollenden Periode ausreichend frönen zu können meint, so verfallen andere auf den raffinierten, aber natürlich auch schon bei den Griechen vorgebildeten Gedanken, daß für Pointe und Glieder der Antithese sich kurze knappe Sätzchen viel besser eignen. Als berühmtester Vertreter der letzteren Art ist der Philosoph Seneca zu nennen, der diese Stilgattung zu solcher Virtuosität ausgebildet hat, daß er damit für einige Zeit auch den modernen Leser fasziniert, ob er nun ethische oder naturwissenschaftliche Themen behandeln mag. Auf die Dauer freilich wirkt die Lektüre Senecas wie etwa die eines dicken Bandes Aphorismen oder Epigramme – wie denn der größte Epigrammatiker aller Zeiten, Martial, nicht zufällig diesem pointenhaschenden Jahrhundert angehört –; man ermüdet beim Lesen, weil der Schriftsteller das Licht seines Scharfsinns nicht in ruhiger Flamme brennen läßt, sondern es alle Augenblicke zu plötzlichem Aufflackern zwingt. Die Dichter aber halten es kaum anders als die Prosaiker. In Senecas Tragödien, in den Epen Lucans und anderer sterben die Helden, wie es sich Cyrano wünscht: la pointe au coeur en même temps qu’aux lèvres. Dem Satiriker Juvenal hat, wie er behauptet, zornige Entrüstung seine Verse eingegeben; aber auch er schwelgt in glitzernden Schlagworten, die nicht ein heißes Herz, sondern nur ein kalter Kopf erzeugt.

Gewiß gibt es auch hier Männer, die der Mode ganz oder in manchem Widerstand leisten. Quintilians Unterweisung in der Redekunst sucht sich dem ciceronischen Muster zu nähern; Tacitus in seinen großen Werken verschmäht im allgemeinen den Rhythmus und wählt, wo er der Antithese huldigt, vielfach die Worte so, daß symmetrische Fassung der Antithesenglieder vermieden wird; ja Unebenmäßigkeit des Satzbaues ist bis zu einem gewissen Grade überhaupt sein Stilprinzip. Aber so weit wir sehen, stehen beide in ihrer Zeit allein. Auf die Pointe haben freilich auch sie nicht verzichten mögen.

Der Stil des 2. Jahrhunderts.4. Die archaisierende Periode. Für die eigentümliche Gestaltung des Stiles seit Hadrian können von den erhaltenen Schriftstellern vier als besonders charakteristische Beispiele dienen: M. Cornelius Fronto aus Cirta, Erzieher des Marc Aurel, Apuleius aus Madaura, der Christ Tertullian aus Carthago und endlich Gellius, dessen Herkunft wir nicht kennen. Ihr Stil ist in vielem nichts weiter als eine Steigerung bereits geschilderter Eigentümlichkeiten: Rhythmus, Fülle bis zum Schwulst, reichster Gebrauch sämtlicher rhetorischen Figuren bis herunter zum Klingklang des Wortspiels. Aber einerseits sind die zweite und dritte Eigenschaft hier so maßlos, und andererseits weist der Wortschatz eine solche Fülle neugebildeter oder seit Jahrhunderten aus der römischen Literatur verschwundener

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache. B. G. Teubner, Leipzig 1913, Seite 545. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Griechische_und_Lateinische_Literatur_und_Sprache.djvu/557&oldid=- (Version vom 1.8.2018)