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Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache

Hälfte des 6. Jahrhunderts der Bericht einer frommen Dame, die von Südgallien nach dem Heiligen Lande wallfahrtete und, was sie gesehen und erlebt hat, schlicht und naiv niederschreibt, nicht ohne Schulbildung zwar und nicht ohne Einfluß literarischer Vorbilder wie namentlich der Bibel, aber doch so, daß allenthalben im Wortbrauch und in der Syntax, ja gelegentlich auch in der Formenlehre der von den Geübteren erfolgreich unterdrückte Brauch der eigenen Zeit hindurchbricht. Und doch passieren auch diesen sogar nicht wenig Schnitzer solcher Art, wie es unvermeidlich ist, wo die Gewohnheit des täglichen Lebens durch Konventionalitäten unterdrückt werden soll.

Poesie der Spätzeit.Gegenüber dem Hin- und Herlavieren des Prosastils zwischen der Fülle älterer Muster bleibt die Poesie verhältnismäßig beständig. Geschmacksschwankungen, wie sie dort etwa durch die Namen Cicero-Apuleius bezeichnet werden, haben hier nicht stattgefunden. Die Dichter der augusteischen Zeit bleiben im ganzen die Norm, der freilich auch hier dadurch mehr und mehr Abbruch geschieht, daß das lebende Idiom gegen seine Vergewaltigung immer stärker revoltiert und im Verse sich manchmal auf eine sehr unklassische Art Luft macht. Es zeigt sich dies insbesondere im Verfall der Quantität. Die scharfe Scheidung zwischen lang und kurz ist im wesentlichen durch die Wirkung des starken Akzents, wie wir ihn früher geschildert haben, ins Schwanken geraten, und was wir in vulgärer Versemacherei schon viel früher beobachten können, wird jetzt auch in der Kunstpoesie merklich. Meist freilich nur in gelegentlichen Irrungen, denen heidnische Dichter im allgemeinen ebenso unterliegen wie christliche. Aber es mag doch kein Zufall sein, wenn gerade das Christentum im 5. Jahrhundert in Commodian einen Mann stellt, dem es beim Bau seiner frommen Hexameter auf die Quantität so wenig mehr ankommt wie den deutschen Verfertigern solcher Verse.

Das unverkünstelte Latein.VII. Die gesprochene Sprache. Wir haben das Latein, wie es in jedermanns Munde war, mit einem lebendigen Strom verglichen, der frühzeitig unter der Eisdecke des Kunststils der Literatur unserem Blicke entschwindet. Wir haben aber eben auch schon gesehen, wie die Eisdecke im Laufe der Jahrhunderte mürber und mürber wird und der Strom von unten immer stärker dagegen schlägt und sie hier und da bereits überflutet. Können wir uns wohl trotz seiner langen Verborgenheit ein Bild davon machen, wie er ausgesehen, wie das Alltagslatein sich im Laufe der Zeiten gestaltet hat? Es fehlt uns dazu nicht ganz an Mitteln. Plautus haben wir ja schon als eins der wichtigsten kennen gelernt, und daß das dritte nachchristliche Jahrhundert und die folgenden in dem, was vom Standpunkt unserer Schulgrammatik als grober Fehler erscheint, vielfach nur der natürlichen, von keiner Schriftsprache normierten Redeweise ihren Zoll entrichten, haben wir auch schon gelernt. Aber auch zwischendurch und nebenher findet sich mancherlei, was uns über Einzelheiten der

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache. B. G. Teubner, Leipzig 1913, Seite 549. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Griechische_und_Lateinische_Literatur_und_Sprache.djvu/561&oldid=- (Version vom 1.8.2018)