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Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache

gewinnen werde. Hätten nur nicht die letzten Jahre gezeigt, daß unser Stil für das kalte Fieber der Latinomanie das hitzige der Gallo- und Anglomanie einzutauschen in Gefahr steht! Indes zugegeben auch, daß das, was bisher dem Lateinunterricht genommen worden ist, unserer eigenen Sprache zugute kommen wird – so viel dürften doch die vorstehenden Betrachtungen in all ihrer Dürftigkeit klarstellen, daß eine weitere Beschneidung unserer Lateinkenntnisse auch für das Verständnis unserer nationalen Sprachgeschichte, wie es jeder Gebildete besitzen sollte, einen nicht unerheblichen Verlust bedeuten würde.

IX. Das Lateinische seit dem Ausgang des Altertums. Latein lernen heißt nicht nur für das Verständnis des Altertums einen der beiden Schlüssel gewinnen. Wir haben eben schon gesehen, wie es auch einer der Schlüssel zum Verständnis unserer eigenen Sprache ist. Aber wir dürfen mehr sagen: es ist auch ein unentbehrlicher Schlüssel zum Verständnis der modernen Kultur, nicht bloß darum, weil diese sich auf der antiken aufgebaut hat, sondern auch darum, weil eine große Anzahl der erlesensten Geister des Mittelalters und der Neuzeit ihren Gedanken lateinische Form gegeben hat.

Das Latein vor und nach der Renaissance.Dies Nachleben des Lateins scheidet sich, wie die ganze Geschichte menschlicher Bildung seit dem Ausgang des Altertums, durch die Renaissance in zwei Hälften. Wenn man es recht verstehen will, kann man sagen: in der ersten ist die Handhabung der lateinischen Sprache freier, origineller, freilich auch viel fehlerhafter und wilder; in der zweiten sieht man ängstlich auf die klassischen Muster. Nicht als ob man nicht auch in der ersten zuzeiten unter Anlehnung an antike Autoren recht gut Latein zu schreiben wüßte. Aber im ganzen heißt es hier mehr, sich überhaupt ausdrücken, und das tut man Lateinisch, da die germanischen und romanischen Sprachen erst sehr allmählich zu schriftlichen Ausdrucksmitteln herangebildet werden. In der zweiten Periode dagegen kommt es im ganzen darauf an, sich, wenn man sich Lateinisch ausdrückt, auch korrekt und schön auszudrücken. Dante und in vielem auch noch Petrarca schreiben ein Latein, das für Cicero teils unverständlich, teils unerträglich fehlerhaft gewesen wäre. Aber Petrarca selbst hat die Quellen des besten lateinischen Stiles wieder aufgegraben; und wer aus diesen Quellen nicht einen tiefen Trunk getan hat, darf sich sehr bald nicht mehr Lateinisch zu äußern wagen, wenn er nicht seines Stiles wegen verlacht werden will wie die Dunkelmänner. Jetzt schwindet die Masse der barbarischen Wörter, mit denen mittelalterliche Schriftsteller teils selbst neubildend, teils aus den Landessprachen entlehnend ihr Latein durchsetzt haben; es schwinden die barbarischen Konstruktionen, die auch entweder aus willkürlicher Verunstaltung oder aus dem Einfluß der Nationalität hervorgegangen sind. Und wenn auch aller Wahrscheinlichkeit nach seit anderthalb Jahrtausenden

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache. B. G. Teubner, Leipzig 1913, Seite 558. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Griechische_und_Lateinische_Literatur_und_Sprache.djvu/570&oldid=- (Version vom 1.8.2018)