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ganze Größe seines Wirkens und Wesens in das ärmste Wort versinken läßt: „Mich dürstet.“

 Die Armut Jesu ist nicht bloß aus ihrem Reichtum so besonders mächtig und bedeutsam hervorgetreten, sondern auch aus der Fülle der noch zu lösenden Aufgabe. Er ist ja noch nicht zu Ende mit seiner Aufgabe, seiner Arbeit, er hat noch die letzte, den Todeskampf, zu bestehen. Er, der nie an sich gedacht hat, der Heilige, der sich verzehrt im Dienen, denkt jetzt an sich. Er, dem nur dein und mein Wohl am Herzen lag, der da frühe auf war, damit er das Seufzen einer Menschenseele hörte, der jetzt den großen Entscheidungskampf, auf den Millionen mit verhaltenem Atem warten, noch vor sich sieht, denkt jetzt an so Geringes. In dieser entscheidungsreichen Stunde, da der Himmel bange lauscht und alle Engel das Geheimnis der Erlösung zu schauen gelüftet, da die Hölle den starken Gewappneten erwartet, ist er so arm geworden, daß er sprechen muß: „Mich dürstet.“

 Aus dem Reichtum früheren Besitzes, aus der Menge der Arbeit tritt das Wort – wir möchten sagen – so unvermittelt, so unfaßlich, so unmenschlich gering, so Gottes unangemessen hervor, daß kein Heldensohn des Altertums, kein Meister und Lehrer der Heiden, auch der ärmste nicht, an solch entscheidungsreichem Tage so arm geredet hätte. Aber – „ihr wisset die Gnade unseres Herrn Jesu Christi, daß, ob er wohl reich ist, ward er doch arm um euretwillen.“ Daß wir es doch alle recht wüßten: so arm wie er durch uns geworden ist, sind selbst wir Armen nicht, so unscheinbar wie wir ihn entstellt haben, ist selbst unser Wesen nicht! Aber während wir unsere Armut nicht kennen und, wenn wir sie kennen, sie zu gestehen uns weigern, spricht er sie aus. „Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute

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Hermann von Bezzel: Die sieben Worte Jesu am Kreuz. Müller & Fröhlich, München 1918, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Die_sieben_Worte_Jesu_am_Kreuz.pdf/46&oldid=- (Version vom 1.8.2018)