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doch und sehet, ob irgendein Schmerz sei wie mein Schmerz, der mich getroffen hat“ (Klagel. 1, 12). Wie gering und unwert ist unsere Kirche! Nur die Freunde spüren es, nur die Kinder und die sie lieb haben, fühlen es. Welche Not leidet sie, wie gar unbegrüßt und unbewillkommnet, wie elend und arm steht sie am Wege, eine Bettlerin, die viele reich machte, eine Witwe, die viele Tränen trocknete, eine Verstoßene, die vielen ein Halt war! Aber weil sie so glaubensreich ihre Armut auf den Herrn und ihre Einsamkeit auf den Heiland wirft, weil sie aller menschlichen Hilfe bar, je länger je mehr auf den Herrn sieht, wird er sie nicht zuschanden werden lassen. Daran muß man seine Kirche wieder lieb gewinnen, die Kirche der Verbannung in der Wüste, daß sie mit ihrem Jesus so arm sein kann.

 Es ist mir in den letzten Tagen so schwer auf die Seele gefallen, daß jemand, der auch von dieser Kirche getauft, von ihr getröstet, von ihr ins Bibelbuch eingeführt war, angesichts der Kriegsnot sagen konnte: „Und was tut die Kirche?“ Ja, die Kirche hält keine Volksabende, keine geistreichen Besprechungen, die Kirche hat nicht Zeit zu allerlei hochgehenden Gedanken. Aber die Kirche mit dem Tränenkrüglein in der Hand und mit dem Kreuz auf der Schulter tut das Allergrößte für die Zeit wie für die Ewigkeit: sie glaubt!

 Wenn ihr eine geistreiche Kirche haben wollt, die mit dem Fortschritt geht und der das Kreuz ein Anstoß ist, dann müßt ihr unserer Kirche je früher desto besser den Abschied geben. Wenn ihr aber eine Kirche wollt, die für ihre Kinder betet, die für die Gemeinde glaubt, die hinüber über die Dürftigkeit des Lebens und über den Mangel ihres Daseins zu dem hofft, der ihr vom Tode aushelfen kann, dann heißt eure lutherische Kirche willkommen!

Empfohlene Zitierweise:
Hermann von Bezzel: Die sieben Worte Jesu am Kreuz. Müller & Fröhlich, München 1918, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Die_sieben_Worte_Jesu_am_Kreuz.pdf/52&oldid=- (Version vom 1.8.2018)