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Tiefen Hauptes, trüben Sinnes,
Schief geschoben seine Mütze,
Ließ er breit herab die Lippen
Und zum Mund die Nase hängen.
     Früher fragte ihn die Mutter,
Suchte sie ihn auszuforschen:
„Sag’, was weinest du, mein Söhnchen,
Murrest du, mein Erstgeborner,
Läss’st die Lippen also hängen,

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Und zum Mund die Nase sinken?“

     Sprach der junge Joukahainen:
„Theure, die du mich getragen,
Wohl ist Grund ob des Gescheh’nen,
Ursach’ ob des Vorgefallnen,
Wohl ist Grund zum Weinen heute,
Hab’ ich Ursach’ heut’ zu murren,
Ewig werde ich nun weinen,
Trauernd nun mein Leben tragen,
Da ich Aino, meine Schwester,

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Meiner lieben Mutter Tochter,

Wäinämöinen hab’ versprochen,
Ihm, dem Sänger, eine Gattin,
Ihm, dem Schwachen, eine Stütze
Und ein Schutzdach an dem Hause.“
     Munter schlug alsdann die Mutter
Hand an Hand mit Hast zusammen,
Redet Worte solcher Weise:
„Weine nicht, mein liebes Söhnchen,
Hast nicht Grund zum Weinen heute,

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Nicht zum Weinen, nicht zum Trauern,

Immer hegt’ ich diese Hoffnung,
Hielt sie fest im Lauf der Jahre,
Wünschte mir den wackern Helden,
Ihn, den starken Wäinämöinen,
Mir zu meinem Schwiegersohne,
Mir zum Tochtermann den Sänger.“
     Doch die Schwester Joukahainen’s
Weinte selbst gar bittre Thränen,
Weinte einen Tag, den zweiten,

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Weinend stand sie an der Pforte,

Weinte ob des großen Kummers,
Ob des bittern Grams im Herzen.
     Hob die Mutter an zu sprechen:
„Warum weinst du, liebe Aino,
Hast ja einen großen Freier,
Kommst ins hohe Haus des Mannes,
Um am Fenster dort zu sitzen,
Um die Bänke blank zu halten?“
     Doch die Tochter sprach die Worte:

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„Mutter, die du mich getragen,

Wohl kann ich, o Liebe, weinen,
Weinen ob der schönen Flechte,
Ob des jungen Schmucks des Hauptes
Ob der Weichheit meiner Haare,
Daß sie ganz und gar verborgen
Und bedeckt nun wachsen werden.“
     „Weine nun mein junges Leben
Ob der lieben Sonne Liebe,
Ob des schönen Mondscheins Milde,

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Ob der Lust des ganzen Lebens,

Da als Mädchen ich gelassen
Und als Kind vergessen wurde
Auf dem Schnitzplatz meines Bruders
Unter meines Vaters Fenster.“
     Sprach die Mutter zu der Tochter,
So die Alte zu der Jungen:
„Geh, o Thörin, mit dem Grame,
Mit den Thränen, Mißgerathne,
Keinen Grund hast du zum Grame,

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Anlaß nicht dich abzuhärmen,

Scheint doch Gottes schöne Sonne
Wohl auch anderswo auf Erden,
Nicht bloß in des Vaters Fenster,
Nicht bloß auf des Bruders Schnitzbank,
Beeren giebt es auf den Bergen,
Auf den Fluren viele Erdbeer’n,
Kannst sie dort, o Kummervolle,
Fort und fort dir selber pflücken,
Nicht stets auf des Vaters Feldern,

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Nicht bloß auf des Bruders Boden.“
Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 17. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_017.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)