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Vierte Rune.


     Aino, dieses junge Mädchen,
Joukahainen’s schöne Schwester,
Ging nun in den Busch nach Besen,
Ging um Quasten dort zu holen;
Brach dort eine für den Vater,
Eine brach sie für die Mutter,
Bindet dann den dritten Besen
Für den jüngsten ihrer Brüder.
     Ging schon graden Wegs nach Hause,

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Macht sich auf aus dem Gebüsche,

Sieh, da kommet Wäinämöinen
Und erblickt im Busch die Jungfrau,
Auf dem Gras die schöngeschürzte,
Redet Worte solcher Weise:
„Nicht für andre trag, o Jungfrau,
Nein für mich nur trag, o Jungfrau,
An dem Halse hübsche Perlen,
Auf der Brust ein blankes Kreuzchen,
Trag für mich die feine Flechte,

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Bind für mich das Haar mit Seide.“

     Ihm zur Antwort gab die Jungfrau:
„Nicht für dich und nicht für andre
Hänget mir am Hals das Kreuzchen,
Schmücke ich mein Haupt mit Seide,
Brauch’ ja nicht des Schiffes Balken,
Brauche nicht des Bootes Leisten,
Geh’ in einfachem Gewande,
Nähr’ mich von des Brotes Kanten,
Bleib’ bei meinem lieben Vater,

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In der Nähe meiner Mutter.“

     Warf drauf von der Brust das Kreuzchen,
Von den Fingern fort die Ringe,
Fort vom Halse dann die Perlen,
Von dem Haupt die rothen Faden,
Warf sie unwirsch auf den Boden,
Warf sie in den Busch behende,
Ging dann weinend ihrer Wege
Und mit Heulen fort nach Hause.
     An dem Fenster saß der Vater,

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Schnitzte dort am schönen Beilschaft:

„Weshalb weinst du, arme Tochter,
Arme Tochter, junges Mädchen?“
     „Hab’ wohl Grund zum Weinen, Vater,
Grund zu weinen und zu trauern,
Deshalb wein’ ich, lieber Vater,
Wein’ und bin ich voll von Kummer,
Von der Brust warf ich das Kreuzchen,
Von dem Gurt die schöne Spange,
Silbern war das schöne Kreuzchen,

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Und von Kupfer meine Spange.“

     An der Pforte saß der Bruder,
Schnitzte dort am schönen Krummholz:
„Weshalb weinst du, arme Schwester,
Arme Schwester, junges Mädchen?“
     „Hab’ wohl Grund zu weinen, Bruder,
Grund zu weinen und zu trauern,
Deshalb wein’ ich, armer Bruder,
Wein’ und bin ich voller Kummer;
Warf den Ring mir von den Fingern,

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Von dem Hals die schönen Perlen,

Golden war der Ring am Finger,
Silbern meines Halses Perlen.“
     An der Schwelle saß die Schwester,
Webte dort am goldnen Gürtel:
„Weshalb weinst du, arme Schwester,
Arme Schwester, junges Mädchen?“
     „Hab’ wohl Grund zu weinen, Schwester,
Grund zu weinen und zu trauern,
Deshalb wein’ ich, arme Schwester,

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Wein’ und bin ich voller Kummer:

Warf das Gold von meinen Schläfen,
Warf das Silber aus den Haaren,
Von dem Aug’ die blauen Bänder,
Von dem Kopf die rothen Schnüre.“
     An der Thür des Vorrathshauses
Sammelte die Mutter Sahne:
„Weshalb weinst du, arme Tochter,
Arme Tochter, junges Mädchen?“
„Mutter, die du mich getragen,

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Mutter, die du mich gesäuget,
Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_018.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)