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Hab’ wohl Grund mich sehr zu grämen
Und mich ernstlich zu betrüben,
Deshalb wein’ ich, arme Mutter,
Mach’ mir deshalb, Mutter, Sorgen:
Ging hin in den Busch nach Besen,
Ging um Quasten dort zu brechen,
Brach dort eine für den Vater,
Brach die zweite für die Mutter,
Band darauf den dritten Besen

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Für den jüngsten meiner Brüder,

Fing dann an nach Haus zu gehen,
Ging gar hastig durch die Fluren.
Aus der Saat sprach da Osmoinen,
Kalewainen von dem Felde:
„Nicht für andre trag, o Jungfrau,
Nur für mich, o theures Mädchen,
An dem Halse hübsche Perlen,
Auf der Brust ein blankes Kreuzchen,
Trag für mich die feine Flechte,

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Schmück für mich das Haar mit Seide.“

Warf drauf von der Brust das Kreuzchen
Von dem Halse fort die Perlen,
Von dem Aug’ die blauen Bänder,
Von dem Kopf’ die rothen Schnüre,
Warf sie unwirsch auf die Erde,
Warf sie böse ins Gebüsche,
Sprach dann selber diese Worte:
„Nicht für dich und nicht für andre
Hängt mir an dem Hals das Kreuzchen,

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Schmücke ich mein Haupt mit Seide,

Brauche nicht des Schiffes Balken,
Brauche nicht des Bootes Leisten,
Sitz’ zu Haus’ in schlichten Kleidern,
Nähr’ mich von des Brotes Kanten,
Bleib’ bei meinem lieben Vater,
In der Nähe meiner Mutter.“
     Sprach die Mutter zu der Tochter,
So die Alte zu der Jungen:
„Weine nicht, o theure Tochter,

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Murre nicht, mein liebes Mädchen,

Iß ein Jahr lang schöne Butter,
Wirst bedeutend schlanker werden,
Iß das zweite Jahr nur Schweinfleisch,
Wirst gar stattlich dann gedeihen,
Und im dritten Schmantgebäcke,
Wirst gar schön dich dann gestalten;
Geh zum Vorrathshaus am Berge,
Öffne dort die beste Kammer,
Kiste stehet dort auf Kiste,

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Kasten stehet dort auf Kasten,

Öffne dort die beste Kiste,
Hebe ab den bunten Deckel,
Findest goldner Gürtel sechse;
Sieben schöne blaue Röcke,
Die des Mondes Tochter webte,
Die der Sonne Tochter nähte.“
     „Ging in meinen jungen Jahren,
In den Jahren meiner Jugend
In den Busch und suchte Beeren,

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Suchte Himbeer’n an dem Berge,

Hört’ des Mondes Tochter weben,
Und der Sonne Tochter spinnen
An dem Rand des blauen Haines,
An dem Saum der schönen Waldung.“
     Nahte ihnen und trat näher,
Stellte mich an ihre Seite
Und begann sie sanft zu bitten,
Sprach dann selber diese Worte:
„Gieb dein Gold, o Mondes Tochter,

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Gieb dein Silber, Sonnentochter,

Diesem Mädchen ohne Mittel,
Diesem Kinde, das dich bittet.“
     „Gold gab mir des Mondes Tochter,
Silber mir die Sonnentochter,
Gold mir an die schönen Schläfen,
Auf das Haupt mir schimmernd Silber,
Mit den Blumen ging behend ich
Freudig nach dem Haus’ des Vaters.“
     „Trug es einen Tag, den zweiten,

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Aber schon am dritten Tage

Nahm das Gold ich von den Schläfen,
Und das Silber mir vom Haupte,
Bracht’ es hin zum Haus’ am Berge,
That es sorgsam in die Kiste;

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_019.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)