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Hat bis heute dort gelegen,
Hab’ es nie mehr angesehen.“
     „Schmück mit Seide nun die Augen,
Schmück mit Gold du deine Schläfen,
Deinen Hals mit prächt’gen Perlen,

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Mit dem blanken Kreuz das Brustlatz,

Leg dir an ein Hemd von Leinwand,
Von dem allerfeinsten Flachse,
Zieh dir an den schönen Tuchrock,
Schnüre ihn mit seidnem Gürtel,
Schmücke dich mit seidnen Strümpfen,
Mit den Schuh’n von schönem Leder,
Zier dein Haupt dann mit der Flechte,
Binde sie mit seidnen Bändern,
Schmück’ mit Ringen deine Finger

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Und die Hand mit hübschen Krausen.“

     „Kommst drauf also in die Stube,
Schreitest also aus dem Hause
Wohl zur Freude der Verwandten,
Zu des ganzen Hauses Zierde,
Wandelst dann wie eine Blume,
Wie die Erdbeer’ auf dem Wege,
Stattlich bist du mehr denn früher,
Schöner als zu andern Zeiten.“
     Also sprach sie zu der Tochter,

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So die Mutter zu dem Mädchen;

Nicht beachtet sie die Worte,
Hört nicht auf der Mutter Rede,
Ging um auf dem Hof zu weinen,
Eilte hin mit raschen Schritten,
Sprach dort Worte solcher Weise,
Ließ sich also dort vernehmen:
„Wie wohl ist der Sinn der Sel’gen,
Wie die glückbegabte Seele?
Also ist der Sinn der Sel’gen,

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So der glückbegabten Seele,

Wie das Wasser, das da fluthet,
Wie die Woge in dem Troge.
Wie der Sinn der Unglücksel’gen,
Wie der Sinn der grauen Ente?
Also ist der Armen Stimmung,
So der Sinn der grauen Ente,
Wie das Eisstück an dem Dache,
Wie das Wasser in dem Brunnen.“
     „Oft ach! schweift der Sinn der Schwachen,

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Oft der Sinn des schwachen Mädchens

Angstvoll durch die Stoppelfelder,
Streift mit Mühe durch die Sträucher,
Wälzt sich weiter durch die Wiesen,
Dringet durch die dicken Büsche,
Besser ist er nicht als Schwärze
Und das Herz so weiß wie Kohlen.“
     „Besser wär’ es mir gewesen,
Besser wär’ ich nicht geboren,
Wär’ ich nicht herangewachsen,

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Wär’ ich nicht so alt geworden

Während dieser bösen Tage,
In dem freudenleeren Zeitraum;
Wär’ ich doch nach sechs der Nächte,
In der achten schon gestorben,
Wäre da nicht lang gewesen,
Brauchte nur ein wenig Leinwand,
Nur ein kleines Fleckchen Erde,
Wenig hätte da die Mutter,
Hätt’ der Vater mich beweinet

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Und der Bruder kaum ein Bißchen.“

     Weinte einen Tag, den zweiten,
Wieder fragte da die Mutter:
„Weshalb weinst du, liebes Mädchen,
Weshalb härmst du dich, o Arme?“
     „Deshalb wein’ ich, armes Mädchen,
Härm’ ich mich mein ganzes Leben,
Daß du also hingegeben
Und dein eigen Kind versprochen
Ihm, dem alten Mann, zum Troste,

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Ihm zu seines Alters Freude,

Ihm, dem Schwankenden, zur Stütze,
Und zum Schutz ihm in der Stube;
Hätt’st mich lieber du versprochen
Unten in des Meeres Tiefe
Schwester dort zu sein den Schnäpeln,
Freundin dort den flinken Fischen;
Besser ist’s im Meer zu schwimmen,
In den Wogen dort zu weilen,

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_020.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)