Seite:Kalewala, das National-Epos der Finnen - 023.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

„Wirst, o Schielaug’, bald gekochet,
Bald, o Breitaug’, du gebraten
Als des Wirthes Abendessen,
Als der Wirthin Morgenbissen,
Als der Tochter Zwischenspeise,

420
Als des Sohnes Mittagsnahrung.“

     Doch der Hase gab zur Antwort,
Laut verkündet es der Großaug’:
„Möge Lempo hierher kommen,
Um im Kessel hier zu kochen!
Bin gekommen zu berichten,
Und zu melden euch die Worte:
Hingeschwunden ist die Schöne
Mit dem Zinnschmuck auf dem Brustlatz,
Mit der schönen Silberspange,

430
Mit dem kupferreichen Gürtel,

In die Wellen hingesunken,
In des Meeres weite Tiefen,
Schwester dort zu sein den Schnäpeln,
Freundin dort den flinken Fischen.“
     Weinen mußte da die Mutter,
Reichlich Thränen fließen lassen,
Hob dann selber an zu sprechen,
Sprach mit Schmerzen diese Worte:
„Arme Mütter, treibet nimmer,

440
Nimmer während eures Lebens,

Eure Töchter an zur Ehe,
Treibt sie nimmer an zur Heirath,
Wenn der Mann nicht nach dem Sinne,
So wie ich, die arme Mutter,
Angetrieben hab’ die Tochter,
Dieses heißgeliebte Hühnchen!“
     Weinte, daß die Thränen tropften,
Bittre Thränen reichlich tropften
Aus den alten, blauen Augen

450
Auf die armen, alten Wangen.

     Eine Thräne floß, die zweite,
Bittre Thränen rannen reichlich
Von den armen, alten Wangen
Auf die starkbewegten Brüste.
     Eine Thräne floß, die zweite,
Bittre Thränen rannen reichlich
Von den starkbewegten Brüsten
Auf den schönen Saum des Kleides.
     Eine Thräne floß, die zweite,

460
Bittre Thränen rannen reichlich

Von dem schönen Saum des Kleides
Auf die rothgestreiften Strümpfe.
     Eine Thräne floß, die zweite,
Bittre Thränen rannen reichlich
Von den rothgestreiften Strümpfen
Auf der schönen Schuhe Leder.
     Eine Thräne floß, die zweite,
Bittre Thränen rannen reichlich
Von der schönen Schuhe Leder

470
Unter ihre beiden Füße,

Auf die Erde, ihr zu Gute,
In das Wasser, ihm zu Gute.
     Als sie auf den Boden kamen,
Bilden sie drei breite Bäche,
Flossen als drei große Flüsse
Aus dem reichen Thränenwasser,
Das vom Haupt herabgekommen,
Von den Schläfen abgeflossen.
     Und in jedem dieser Bäche

480
Braust ein Wasserfall voll Feuer,

In dem Schaum’ des Wasserfalles
Stehen drei vereinte Felsen,
An dem Rande jedes Felsens
Hebet sich ein hübscher Hügel,
Auf der Spitze jedes Hügels
Wachsen drei gar schöne Birken,
In dem Wipfel jeder Birke
Sitzt ein hübsches Kuckucks-Kleeblatt.
Fangen alle an zu rufen,

490
Einer rufet: Liebe, Liebe,

Dann der andre: Freier, Freier,
Und der dritte: Freude, Freude.
     Welcher „Liebe, Liebe“ rufet,
Rufet also drei der Monde
Jener Jungfrau ohne Liebe,
Die nun in den Wogen ruhte.
     Welcher „Freier, Freier“ rufet,
Rufet also sechs der Monde

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_023.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)