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der rothaarige Junge des Hirten, lachte über das ganze, erhitzte Gesicht und hielt ihr einen Brief hin. Mareile las die flüchtig hingeworfenen Zeilen, dann legte sie das Blatt auf das Fensterbrett. Sie schaute sich nach dem Jungen um, aber er war fort. Er hatte sich gefürchtet, „weil die Dame so weiß im Gesichte geworden war,“ berichtete er der Frau Kulmann[1].

Lange saß Mareile unbeweglich da. Die Sonne ging unter. Zwischen den Stämmen des Waldes glomm ein rotes Feuer. Über den Wipfeln ließ sich der pfeifende Flug der Wildenten hören, die vom See zu den Waldtümpeln zogen.

Mit weit offnen Augen starrte Mareile in den Abend hinaus, Augen, die nichts zu sehen schienen, nur die Strahlen der Abendsonne widerspiegelten und mit der Dämmerung dunkler wurden. Große Tränen rannen dabei über das regungslose, weiße Gesicht.

Anfangs war es ein hilfloses, schmerzhaftes Vermissen, das sie quälte, ein unerträgliches Verlangen nach Günther. Es fror sie nach seinem begehrenden Blick. Ein jammervolles Gefühl der Verlassenheit sank schwer auf sie nieder. Von außen ertönte eine Stimme: „Guten Abend, gnädige Frau!“ Eve Mankow stand vor dem Fenster, stützte den Arm auf den Fensterrahmen und schaute zu Mareile hinein. Einen starken Duft von jungem Birkenlaub brachte sie mit, denn ihr alter Strohhut war ganz mit Birkenzweigen besteckt. Die grellen, runden Augen musterten Mareile neugierig. „Guten Abend, Eve,“ erwiderte Mareile. Die Gegenwart des großen rothaarigen Mädchens tat ihr wohl.

„Er is nich gekommen?“ fragte Eve.

„Nein,“ sagte Mareile mechanisch.


  1. Vorlage: Kuhlmann
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Eduard von Keyserling: Beate und Mareile. S. Fischer, Berlin [1903], Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Keyserling_Beate_und_Mareile.djvu/142&oldid=- (Version vom 1.8.2018)