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Die mit der Taube damals war? – Du schweigst.
Wie immer alles schweigt.
Nun ja, der Ring –
Du machst mir neue Zeichen, ihn zu nehmen.
Und wenn ich’s tu und wenn ich an den Finger
Ihn füge, hör ich wieder dann die Stimme?
Bejahung weht dein freudiger Flügelschlag.
Ich sehe, was du meinst:
Der Ring erlöst mich von der großen Stille.“

Der Heilige ergreift den Ring und steckt ihn, nachdem ihm die Taube versichert, daß er als Sohn und Erbe Davids ein Recht darauf habe, an den Finger. Sie erzählt ihm darauf die Geschichte und Bedeutung des Ringes, dessen Besitz den Träger befähigt, das Schweigen der Wildnis zu brechen und die Stimme der leidenden und beglückten Geschöpfe zu verstehen. Wer also frei von Bitternissen sein will, kann dieses Ringes Herr nicht sein; denn die höchste Weisheit wandelt in Torheit sich, wenn man der Seele Frieden durch fremden Schmerz stört. Ehe Lilith ihre philosophische Rede beendet, wird sie vom Geier gewaltsam entführt.

Der Heilige findet nun bald aus, weshalb die Wüste weint. Er sieht nichts als Kampf unter den Geschöpfen, denen er Erlösung bringen wollte und kommt, da dies einmal im Schöpfungsplane liegt, zu der Überzeugung, daß das Raubtier seine angeborene Natur nicht ändert und daß allen edlen Bestrebungen enge, nicht zu überschreitende Grenzen gezogen sind. Er entsagt also dem Ringe und wird taub für alle Klagen.

Einer höchst eigenartigen Auffassung des Charakters der Lilith begegnen wir in dem didaktischen Epos „Die Kinder der Lilith“ (Stuttgart 1908) der bekannten schwäbischen Dichterin Isolde Kurz. Sie zeichnet die erste Gattin Adams als die Repräsentantin der edelsten Ideale, die jemals ein Menschenherz bewegt haben und stellt sie in grellen Gegensatz zu ihrem philistriösen Manne und seiner Gehilfin Eva, die ihre Bestimmung nur in der Erfüllung der prosaischen, häuslichen Pflichten erblickt. Lilith wird zur Mutter aller derjenigen Apostel der Humanität, die sich zur Hebung der Menschheit aufopferten, Eva hingegen