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DAMENMODE
(21. august 1898)


Damenmode! Du gräßliches kapitel kulturgeschichte! Du erzählst von der menschheit geheimen lüsten. Wenn man in deinen seiten blättert, erbebt die seele angesichts der fürchterlichen verirrungen und unerhörten laster. Man vernimmt das wimmern mißbrauchter kinder, das gekreisch mißhandelter weiber, den ungeheuren aufschrei gefolterter menschen, das geheul derer, die auf dem scheiterhaufen starben. Peitschenhiebe klatschen, und die luft bekommt den brenzlichen geruch gebratenen menschenfleisches. La bête humaine …

Nein, der mensch ist keine bestie. Die bestie liebt, liebt einfach und wie es die natur eingerichtet hat. Der mensch aber mißhandelt seine natur und dadurch den eros in sich. Wir sind bestien, die man in ställe gesperrt hat, bestien, denen die natürliche nahrung vorenthalten wird, bestien, die auf befehl lieben müssen. Wir sind haustiere.

Wäre der mensch bestie geblieben, dann wäre einmal im jahre die liebe in sein herz gezogen. Aber die mühsam zurückgehaltene sinnlichkeit macht uns jederzeit zur liebe tauglich. Um den lenz wurden wir betrogen. Und unsere sinnlichkeit ist nicht einfach, sondern kompliziert, nicht natürlich, sondern widernatürlich.

Diese unnatürliche sinnlichkeit kommt in jedem jahrhunderte, ja in jedem jahrzehnte in anderer weise zum ausbruche. Sie liegt in der luft und wirkt ansteckend. Bald verbreitet sie sich gleich einer pest, die man nicht verbergen kann, bald schleicht sie durch das land gleich einer geheimen seuche, und die menschen, die von ihr befallen sind, wissen sie vor einander zu verbergen. Bald

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Adolf Loos: Adolf Loos – Sämtliche Schriften. Herold, Wien, München 1962, Seite 157. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Loos_S%C3%A4mtliche_Schriften.pdf/156&oldid=- (Version vom 1.8.2018)