Seite:Neuda-Stunden der Andacht-1858.pdf/62

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Fürbitte und Fürsprache von Nöthen. Bedarf denn etwa das Kind eines Vermittlers seinem Vater gegenüber? – Wenn wir eure Gräber besuchen, so wollen wir nur die Erinnerung an euch und eure Tugenden in uns beleben, auf daß euer frommes Beispiel zu allem Guten uns ermuntere und von der Sünde abhalte. Der Art seid ihr die Schutzgeister, die vor uns einherziehen, die guten Engel, die uns auf ihren Händen tragen und jeden Stein uns aus dem Wege räumen. Und dafür segne euch Gott, ihr theuern Seelen, mit seinem schönsten Himmelssegen, mit den ewigen Wonnen seines Himmelreiches. Amen.


Am Vorabend des Versöhnungstages.

Und Gott sprach:
„Ich verzeih was sie verbrochen. –
Es sei so wie du gesprochen.“
 (4. B. Mos. 14, 29.)

Allerheiligster! Unter tiefem Schauer öffnen sich meine Lippen vor dir zum Gebete in dieser ernst feierlichen Stunde, da der große Tag der Sühne und Buße beginnt. Es eilet dein ganzes Volk hin zur heiligen Stätte, und aus zerknirschten Herzen steigen Sang und Gebet zu dir empor. Wie an jenem großen Tage des Gerichts, wo die Daheimgegangenen im ewigen Lichtkreise an deinem himmlischen Throne stehen, so stehen auch wir heute vor deinem Angesichte; offen liegt vor dir das Buch unsres Herzens, in dessen Blättern du liesest mit allsehendem Auge, dessen Inhalt du prüfest mit allumfassender Gerechtigkeit. Gott, mein Gott, die Engel des Himmels sind nicht rein vor dir, und wie erst wir, die wir alle schuldbeladen, schuldbewußt vor dir stehen! Verderben wohnt in unsrem Herzen, die Sünde feiert ihre Triumphe darin, und wir sollten nicht zagen, und unsre Knie nicht in Angst zusammen brechen? – Doch nicht um uns zu erdrücken durch die Last der Erinnerung an unsere Schuld, nicht um uns aufzulösen in Furcht und Grauen vor deinem Zorne deiner strafenden Richterhand, hast du diesen großen, gesegneten Tag geschaffen; sondern um durch ihn, dein an sich Verzweifelnden, den muthlos sich aufgehenden Sünder wieder zurückzuführen an dein Vaterherz, dem in der Nacht des Verderbens Wandelnden, dem Lichte deiner himmlischen Gnade den Blick zu öffnen. – Dazu hast du uns diesen Tag gegeben

Empfohlene Zitierweise:
Fanny Neuda: Stunden der Andacht. Wolf Pascheles, Prag 1858, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Neuda-Stunden_der_Andacht-1858.pdf/62&oldid=- (Version vom 1.8.2018)