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daß die Aberration, d. h. die Abweichung von der Absehenslinie, von der ich soeben gesprochen habe, dadurch eine Veränderung erfahren würde. Es hat sich aber nichts ergeben. Man hat also so erkannt, daß die Gesetze der Reflexion und Refraktion in keiner Weise durch die Translation der Erde beeinflußt werden, und da dieses Ergebnis im Widerspruch mit den alten Theorien stand, hat man Hypothesen aufgestellt, um sich davon Rechenschaft zu geben. Unglücklicherweise gibt uns eine jede dieser Theorien nur über einen Teil der Tatsachen Rechenschaft, nämlich gerade über die Tatsachen, denen zuliebe man die Theorien erdacht hat; für jede neue Tatsache bedürfte es einer neuen Hypothese.

Ich selbst habe mit einem meiner Studiengenossen ein diesen Gegenstand betreffendes Experiment gemacht, das ich bisher nicht veröffentlicht hatte. Ich war damals Schüler der École Polytechnique. Ich muß Ihnen gestehen, daß ich außerordentlich ungeschickt bin, und daß ich seitdem gänzlich auf die Experimentalphysik verzichten zu müssen glaubte. Aber zu jener Zeit sprang mir ein Studiengenosse bei, M. Favé, der manuell sehr geschickt und außerdem ein sehr erfinderischer Kopf ist. Wir verbanden uns also zu Untersuchungen, ob die Gesetze der Doppelbrechung durch die Translation der Erde eine störende Modifikation erfahren. Würden unsere Untersuchungen zu einem positiven Resultat geführt haben, d. h. würden unsere Lichtfransen von ihrer Richtung abgelenkt sein, so würde das nur gezeigt haben, daß wir im Experimentieren keine Erfahrung hatten, und daß die Aufstellung unseres Apparates mangelhaft war. Indessen die Untersuchung verlief negativ, und das bewies zwei Dinge zugleich, nämlich daß die Gesetze der Optik durch die Translation nicht gestört werden, und daß wir bei der Sache viel Glück hatten.

Übrigens waren wir glücklicherweise nicht die einzigen, die sich mit diesem Gegenstande beschäftigten. Die tüchtigsten Physiker haben dergleichen Experimente angestellt und sind sämtlich zu demselben Ergebnis gelangt: die optischen Phänomene, welcher Art sie auch sein mögen, werden absolut nicht beeinflußt von der Tranlation der Erde. Man könnte wohl noch glauben, daß ein solcher Einfluß existiert, aber daß er doch zu geringfügig sei, als daß ihn unsere Instrumente aufdecken könnten. Indessen ein amerikanischer Physiker, Michelson, hat eine Versuchsanordnung ersonnen, welche die Genauigkeit verhundertfacht, und bei alledem änderte sich an dem Resultate nichts. Bei jedem Versuch erdachte man eine neue Erklärung, die die Ursache der Ergebnislosigkeit in dem Genauigkeitsgrade des Versuches suchte. Aber die Vielfältigkeit der Erklärungen machte dies unwahrscheinlich. Durch welchen mysteriösen Zufall hätte sich für jedes Phänomen ein spezieller Umstand finden lassen, der gewissermaßen providentiell und genau ausgleichend wirkte! Man fand sich augenscheinlich einer allgemeinen Ursache gegenüber und wurde schließlich zu dem Zugeständnis geführt, daß das Prinzip der Relativität ein allgemeines Naturgesetz sei.

Es war nun schließlich erforderlich, das Prinzip der Relativität mit den bisher angenommenen theoretischen Anschauungen in Einklang zu bringen, oder vielmehr man mußte diese Anschauungen in der Weise

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Henri Poincaré: Die neue Mechanik. B.G. Teubner, Leipzig 1911, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PoincareMechanik.djvu/10&oldid=- (Version vom 1.8.2018)