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kommt ihr im eigentlichen Sinne des Wortes nicht mehr zu. Wenn eine Kanonenkugel sich mit einer großen Geschwindigkeit bewegt und dadurch der Träger einer lebendigen Kraft, einer gewaltigen Energie wird, die Tod und Verderben ausstreut, so sind es nicht mehr die Eisenmoleküle, die den Sitz dieser Energie bilden, sondern dieser Sitz ist in dem Äther zu suchen, der die Moleküle umgibt. Man kann beinahe sagen, es gibt keine Materie mehr, es gibt nur noch Löcher im Äther; und soweit diese Löcher eine aktive Rolle zu spielen scheinen, besteht sie darin, daß diese Löcher ihren Ort nicht verändern können, ohne den umgebenden Äther zu beeinflussen, der gegen dergleichen Veränderungen eine Reaktion ausübt.

Das ist noch nicht alles! Lassen wir das Prinzip der Relativität ohne Einschränkung bestehen, wie es Lorentz tut, so ergeben sich daraus noch andere Konsequenzen. Nicht allein die Massen sind durchweg elektromagnetischen Ursprungs – oder ändern sich doch wenigstens den hierfür gültigen Gesetzen entsprechend –, auch alle Kräfte müssen elektromagnetischen Ursprungs sein oder sich doch wenigstens nach denselben Gesetzen ändern, die für Kräfte elektrischer Herkunft bestehen. Um den ganzen Bau zu vollenden, müßte sich also für sämtliche Kräfte gewissermaßen eine elektromagnetische Erklärung finden lassen. Dies hat man aber noch nicht erreichen können, ja die Möglichkeit einer solchen Erklärung liegt noch in weiter Ferne. Wir kennen verschiedene Arten von Kräften, und darunter solche, welche sich besonders rebellisch dieser Art von Erklärung gegenüber verhalten.

Was die Newtonsche Gravitationskraft anbetrifft, so hat Lorentz mit ihr bisher wenig Glück gehabt. Es ist bekannt, daß gleichnamige Elektrizitäten sich abstoßen, ungleichnamige sich anziehen. Wir müssen uns unter einem Molekül etwa vorstellen, daß es ein Aggregat von positiven oder negativen Elektronen sei, welche gegen einander gravitieren; das Molekül ist neutral, weil es genau ebensoviel positive wie negative Elektrizität besitzt. Wenn wir dann zwei Moleküle ins Auge fassen, so werden die verschiedenen Elektrizitäten, mit denen sie behaftet sind, sich gegenseitig anziehen oder abstoßen. Zweifellos müssen nach den bisher allgemein anerkannten Elektrizitätsgesetzen diese Anziehungen und Abstoßungen sich genau aufheben; indessen eine kleine Modifikation dieser Gesetze genügt, um dieses Dilemma zu beseitigen. Man braucht nämlich nur anzunehmen, daß die negative Elektrizität die positive Elektrizität stärker anzieht, als sie die negative Elektrizität abstößt, oder daß die positive Elektrizität nicht die gleichnamige Elektrizität abstößt. Dann wird der Ausgleich kein vollständiger mehr sein, und es würde dann ein Überwiegen der Anziehungen gegenüber den Abstoßungen stattfinden, und zwar so, daß die beiden Moleküle, obwohl sie neutral sind, sich nach Maßgabe des Newtonschen Gesetzes anziehen würden. Wenn diese Modifikation mit den Elektrizitätsgesetzen vorgenommen wird, wird das Prinzip der Relativität nicht beeinträchtigt; immerhin bedeutet dieselbe eine Komplikation, die vielleicht einen etwas gekünstelten Charakter besitzt.

Empfohlene Zitierweise:
Henri Poincaré: Die neue Mechanik. B.G. Teubner, Leipzig 1911, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PoincareMechanik.djvu/20&oldid=- (Version vom 1.8.2018)