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Verehrte Anwesende!

Als von dem Vorsitzenden „des wissenschaftlichen Vereins zu Berlin“ mir der ehrenvolle Auftrag zuteil wurde, in diesem Verein einen Vortrag zu halten, war ich zuerst sehr in Verlegenheit. War doch die Wahl des Themas nicht leicht! Über die Literatur und Naturwissenschaften im allgemeinen zu sprechen, fühlte ich mich nicht berufen; viel näher lag es mir, wissenschaftliche Fragen zu behandeln, die ich beherrsche, speziell eine solche, die meinem Forschungsgebiet angehört. In diesem Falle aber drohte die Gefahr, daß ich mich in Abstraktionen verlieren könnte und bei meinen Zuhörern langweilig wirke. Denn Experimente, wie sie der Physiker und Chemiker vorführen kann, sind hier ausgeschlossen, Lichtbilder kaum zulässig oder doch nur mit knapper Not.

Ich hege nicht die Hoffnung, daß es mir gelingen wird, alle diese Schwierigkeiten zu beseitigen. Sie müssen nicht etwas Amüsantes erwarten. Ich habe mich entschlossen, über eine Art von Revolution zu reden, die das zu bedrohen scheint, was in der Wissenschaft bis dahin als das Sicherste galt, nämlich die Grundlehren der Mechanik, die wir dem Geiste Newtons verdanken. Vor der Hand ist diese Revolution freilich nur erst ein drohendes Gespenst, denn es ist sehr wohl möglich, dass über kurz oder lang jene altbewährten Newtonschen dynamischen Prinzipien aus diesem Kampf als Sieger hervorgehen werden. Immerhin ist es aber doch eine beachtenswerte Tatsache, daß sie sich zur Verteidigung anschicken müssen, denn noch vor wenigen Jahren hätte kaum jemand dies für möglich gehalten. Ich glaubte, daß es von einigem Interesse sein dürfte, Sie, verehrte Anwesende, auf dem laufenden zu halten über den gegenwärtigen Stand dieses Streites, weil darin ja alle unsere Vorstellungen, die wir uns seit Jahrhunderten von der Natur der Bewegung, von dem Begriffe der Zeit und des Raumes, von der Konstanz der Materie gemacht haben, plötzlich zusammenzubrechen scheinen. Andrerseits können diejenigen, welche an der naturwissenschaftlichen Erkenntnistheorie interessiert sind, eine heilsame Lehre aus solchen wissenschaftlichen Revolutionen ziehen. Sie zeigen uns nämlich, wie die Theorien der Wissenschaft einander ersetzen und ergänzen, wie die Ansammlung neuer Erfahrungstatsachen oft zum Verlassen alter Gedankenreihen führt und zur Annahme neuer zwingt, welche zweifellos nicht richtiger, wohl aber bequemer sind und sich der Gesamtheit der uns bekannten Tatsachen enger

Empfohlene Zitierweise:
Henri Poincaré: Die neue Mechanik. B.G. Teubner, Leipzig 1911, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PoincareMechanik.djvu/3&oldid=- (Version vom 1.8.2018)