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es an sein Herz, küssete es ganz süßiglich ohne Unterlaß und konnte vor Leid und Freude nichts mehr sagen als: „Ach, mein herzliebster Sohn, ach, mein herzgüldenes Kind!“

Nachdem er nun den Knaben lange umarmt hatte, blies er stark in sein Jägerhorn und berief die Jägerburschen zusammen. Diese kamen eilig und verwunderten sich höchlich, als sie die wilde Frau bei ihrem Herrn und das Kind auf seinen Armen sahen.

Der Graf sprach: „Was dünket Euch um dieses Weib? solltet Ihr sie wohl kennen?“

Sie sagten alle: „Nein!“ Aber der Graf sprach weiter: „Kennet Ihr denn Eure Herrin nicht mehr?“

Da überfiel sie eine solche Verwunderung, daß sie nicht wußten, was sie sagen oder denken sollten. Einer nach dem andern aber ging hinzu und hieß sie freundlich willkommen. Alle aber freuten sich von Herzen, daß diejenige noch lebte, deren wegen der ganze Hof schon sieben Jahre lang geseufzt hatte.

Von allen Dienern, welche das Jagdhorn zu dem Grafen berief, war Golo der letzte, denn es dünkte ihn, daß nichts Gutes für ihn geschähe. Darum schickte ihm der Graf Boten entgegen mit dem Befehle, der Haushofmeister solle geschwind kommen, denn sein Herr hätte ein wunderseltsames Tier gefangen.

Als er nun hinzu kam, sprach der Graf zu ihm: „Golo, kennst Du dieses Weib?“

Er wurde ganz erschreckt und sagte: „Nein, ich kenne sie nicht.“

Der Graf sprach: „Du gottloser Bösewicht, kennest Du denn Genovefa nicht, welche Du fälschlich vor mir verklagt und unschuldig in den Tod geschickt hast? Wenn ich Dir alle erdenklichen Martern anthäte, so hättest Du doch noch mehr verschuldet“.

Der Golo lag auf der Erde und bat mit weinenden Augen um Barmherzigkeit. Der erzürnte Graf aber befahl, man solle ihn hart binden und als den größten Übelthäter gefangen nehmen.

Zween Diener waren eilfertig nach Hause geritten und holten eine Sänfte, die ganz ausgemergelte Gräfin darin zu tragen, und Kleider, sie ehrlich damit zu bedecken. Darum bat der Graf nun Genovefa, sie sollte

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Heinrich Pröhle: Rheinlands schönste Sagen und Geschichten. Tonger & Greven, Berlin 1886, Seite 165. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Proehle_Rheinlands_Sagen_und_Geschichten.djvu/176&oldid=- (Version vom 1.8.2018)