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Ueberhaupt, fuhr die Baronesse fort: weiß ich nicht, wie wir geworden sind? wohin auf einmal jede gesellige Bildung verschwunden ist? Wie sehr hüthete man sich sonst in der Gesellschaft irgend etwas zu berühren, was einem oder dem andern unangenehm seyn konnte! Der Protestante vermied in Gegenwart des Katholicken irgend eine Zeremonie lächerlich zu finden; der eifrigste Katholick ließ den Protestanten nicht merken, daß die alte Religion eine grössere Sicherheit ewiger Seligkeit gewähre. Man enthielt sich vor den Augen einer Mutter, die ihren Sohn verloren hatte, sich seiner Kinder lebhaft zu freuen, und jeder fühlte sich verlegen, wenn ihm ein solches unbedachtsames Wort entwischt war. Jeder Umstehende suchte das Versehen wieder gut zu machen, — und thun wir nicht jetzo gerade das Gegentheil von allem diesem? Wir suchen recht eifrig jede Gelegenheit, wo wir etwas vorbringen können, das den andern verdrießt und ihn aus seiner Fassung bringt. O laßt uns künftig, meine Kinder und Freunde, wieder zu jener Art zu seyn zurückkehren! Wir haben bisher schon manches Traurige erlebt — und vielleicht verkündigt uns bald der Rauch bey Tage und die Flammen bey Nacht den Untergang unsrer Wohnungen und unsrer zurückgelassenen Besitzthümer. Laßt uns auch diese Nachrichten nicht mit Heftigkeit in die Gesellschaft bringen, laßt uns dasjenige nicht durch öftere Wiederholung tiefer in die Seele prägen, was uns in der Stille schon Schmerzen genug erregt.

Als euer Vater starb habt ihr mir wohl mit Worten und Zeichen diesen unersetzlichen Verlust bey jeder Gelegenheit erneuert? Habt ihr nicht alles, was sein Andenken zur Unzeit wieder hervorrufen konnte, zu vermeiden

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 1-67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_1-1795.pdf/83&oldid=- (Version vom 1.8.2018)